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Das Maedchengrab

Das Maedchengrab

Titel: Das Maedchengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadja Quint
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war zu tun. Tief holte sie Luft, sprach sich selbst gut zu und betrat Marjanns Schlafkammer, wo sie so viele Jahre die Nächte in der Obhut ihrer Pflegemutter verbracht hatte.
    Das kleine Fenster lag nach Norden hin, nur wenig Licht drang in den Raum. Zu wenig, um die Stempel genau betrachten zu können. Kurz überlegte Fine, die Briefe mit an die helle Sonne zu nehmen, doch das erschien ihr leichtsinnig. Also holte sie eine Petroleumlampe aus der Küche, zündete sie an und stellte sie auf Marjanns Nachttisch ab. Vorsichtig zog sie die Truhe unter dem Bett hervor. Als sie den Deckel aufklappte, bot sich der vertraute Anblick. Die Briefe von Hannes, ordentlich eingefasst mit roten und grünen Bändern – den Farben für Liebe und Hoffnung. So oft hatte Fine zusammen mit Marjann die Briefe gelesen und dabei kaum auf die Umschläge geachtet. Die Marken waren ihr langweilig vorgekommen: Bilder von den Köpfen alter Männer. Doch nun schaute Fine so genau hin, wie sie nur konnte. Brief um Brief hielt sie in den Schein der Lampe. Der früheste stammte aus dem Jahr 1852. Fein gezeichnet in schwarzer Farbe das Absendedatum, eingerahmt vom Schriftzug:
Portland State of Maine
.
    Jeden Stempel untersuchte Fine auf seine noch so kleinen Einzelheiten. Vom ältesten angefangen arbeitete sie sich vor. Mit den Briefen aus den Jahren 1852 bis 1859 schien alles in Ordnung. Doch dann betrachtete Fine den ersten Brief des Jahres 1860. Was war das? Täuschte sie sich etwa? Sie hielt den Umschlag so nah wie möglich an das heiße Glas der Lampe. Tatsächlich! Dieser Stempel war anders als die vorherigen, seine Linien wirkten breiter, die Farbe verwischt.
    Mit einem Finger fuhr Fine über die Marke. Es kam ihr vor, als wäre sie mit einer dickeren Leimschicht aufgeklebt. Bei genauer Betrachtung ließ sich erkennen, dass die Marke zum umgebenden Stempel verschoben war. An einer Seite überlappten sich die Linien, an der anderen zeigte sich ein Spalt zwischen Marke und Stempel. Kaum atmend vor Aufregung untersuchte Fine die weiteren Briefe. Am Ergebnis hatte sie keine Zweifel: Sämtliche Umschläge ab 1860 zeigten diese Merkmale. Dabei war die Handschrift überall die gleiche. Fine kannte Marjanns Art zu schreiben. Von ihr kamen diese Briefe gewiss nicht. Dann also doch von Hannes? Aber der Postillon hatte an diesem Morgen gesagt, dass er schon seit Jahren keinen Brief mehr aus Amerika an Marjann zugestellt habe. Seit Jahren! Vielleicht seit vier Jahren? Seit dem Jahr 1859? Das passte!
    Doch es war noch nicht alles. Als Fine den Umschlag in der Hand hielt, der zuoberst auf dem Stapel gelegen hatte, fiel ihr etwas auf: Diesen Brief kannte sie noch gar nicht! Marjann hatte ihn ihr nicht gezeigt. Aber warum nicht? Fine öffnete den Umschlag. Fünf Bögen lagen darin, von beiden Seiten eng beschrieben. Es würde lange dauern, alle zu lesen. Jetzt hatte Fine keine Zeit dazu. Sie hatte versprochen, in einer Viertelstunde auf dem Hof zurück zu sein. Daran musste sie sich halten. Die anderen durften keinen Verdacht schöpfen.
    Eilig band Fine die Schleifen zu, legte die Briefe in die Truhe zurück und achtete darauf, alles so zu hinterlassen, wie sie es vorgefunden hatte. Sie nahm noch eine Jacke und einige Tücher mit, die ihr gehörten, schloss das Haus ab und ging schnellen Schrittes zum Oberlandhof zurück.
    Den restlichen Tag verbrachte sie mit emsiger Arbeit und gab sich jede Mühe zu verbergen, was ihr durch Kopf und Herz ging. Noch bis tief in die Nacht schrubbte sie kupferne Pfannen und Kessel mit feinem Sand. Erst als die Großmagd ihr befahl, sich schlafen zu legen, begab sie sich zu ihrem Bett in der Krankenstube. Doch auch da lag sie noch lange wach, bis ein flacher Schlummer sie einstweilig von ihrem Grübeln erlöste.

Der schwarze Umhang
    Am Tag darauf, einem Sonntag, machte sich das ganze Dorf zur Frühmesse auf. Weil die Ärzte den Leichnam erst untersuchen mussten, würde es noch Wochen dauern, bis Ulla in heimischer Erde ihre letzte Ruhe finden konnte. Nun galt es, die Zeit bis dahin mit Ritus und Gebet zu gestalten. Der Vikar wollte der jungen Magd in dieser Sonntagsmesse auf besondere Weise gedenken. Die Dorfbewohner, gezeichnet von Entsetzen und Trauer, füllten die kleine Kirche Sankt Magdalenen. Ullas Eltern waren seit Langem tot, doch sie hatte noch zwei Tanten in Reetz, denen nun alle Dörfler ihr Beileid bekundeten.
    Fine betrat die Kirche mit einem Wust solch widersprüchlicher Gefühle, dass sie kaum noch einen

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