Das Maedchengrab
klaren Gedanken fassen konnte. Was hatte es mit den Briefen auf sich? Warum hatte Marjann sie nicht in das Geheimnis eingeweiht? Ihre Qualen standen Fine ins Gesicht geschrieben. Doch weil das ganze Dorf noch tief von den Ereignissen ergriffen war, fragte niemand nach dem Grund für ihren Gram.
Gern hätte Fine an diesem Morgen zwischen den übrigen Mägden vom Oberlandhof auf der Bank Platz genommen. Andererseits saß sie seit dem Tod ihrer Eltern stets neben der Schwarzen Marjann in der Kirche. Warum sollte sie das ändern, nur weil sie auf Wunsch ihres Vormunds nicht mehr in Marjanns Haus wohnte?
Also begrüßte Fine die alte Frau herzlich und setzte sich neben sie. So gut wie möglich versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen von ihrem gestrigen Besuch in Marjanns Schlafkammer. Stattdessen sprach sie manch freundliches und tröstendes Wort mit ihr. Mit aller Kraft versuchte Fine, sich auf die Heilige Messe zu besinnen. Hier im Gotteshaus wollte sie an nichts anderes denken. So saß sie in der Kirchenbank, tief bedrückt von Schmerz und Trauer. Doch so sehr sie auch unter Ullas Tod litt – ihre Gedanken kreisten um die Briefe. Wenn Hannes also nicht in Amerika war – wo war er dann? Und was stand in dem jüngsten Brief?
Der Vikar predigte von der Schuld des Menschen und der Vergebung Gottes, der so gütig und groß war. Selbst das schwärzeste Herz eines Sünders würde im Himmelreich seinen Platz finden, wenn er nur seine Taten aufrichtig bereute. Dennoch sollte er nicht seiner irdischen Strafe entgehen, und so betete die Gemeinde dafür, dass die Polizei ihn bald finden möge.
Wieder und wieder musste Fine an das Flehen ihres Bruders denken: »Erzähl der Polizei, dass du einen Mann mit schwarzem Umhang gesehen hast!«
Einige Male sah sie zu Gerd hinüber, der auf der anderen Seite des Kirchenschiffs zwischen den Männern saß. Als der Vikar das Lied
Maria, breit den Mantel aus
anstimmen ließ, stand Fines Entschluss. Gleich nach der Messe wollte sie Gerd von der Gestalt im schwarzen Mantel und den gefälschten Stempeln erzählen. Das war sie ihrem Bruder schuldig. Und so sang sie voller Inbrunst:
O Mutter der Barmherzigkeit
Den Mantel über uns ausbreit
.
Uns all darunter wohl bewahr
,
zu jeder Zeit in aller Gefahr
.
Unter dem Läuten der Totenglocken traten die Dörfler aus der Kirche. Allen stand die Trauer ins Gesicht geschrieben, viele weinten gramgebeugt. Vor der Kirchenpforte fanden sie in kleinen Gruppen zusammen und gaben einander Beistand. Keinem war danach zumute, gleich nach Hause zu gehen.
Auch Fine stand noch eine Weile bei Marjann und ließ sich von ihr trösten. Gern hätte die alte Frau sie mit nach Hause genommen und ein Mittagsmahl bereitet, doch an diesem Sonntag hatte Fine zu arbeiten.
»Bei dem, was du durchmachst, gibt der Oberlandbauer dir sicher ein paar Stunden frei«, meinte Marjann dazu.
Doch Fine erwiderte: »Das würde er wohl, Tante. Aber meine Kameradinnen auf dem Hof leiden ja nicht weniger als ich unter Ullas Tod. Auch sie brauchen Zeit, sich zu besinnen.«
Marjann nickte und trat mit vielen guten Wünschen ihren Heimweg an. Fine blieb, denn sie wollte sich ja Gerd anvertrauen. Doch er und Gudrun sprachen gerade mit Ullas beiden Tanten, die heftig weinten.
Um die vier nicht zu stören, wartete Fine zwischen den übrigen Kirchgängern. Für einen Augenblick schloss sie die Augen, um sich selbst zu beruhigen. Da hörte sie unerwartet eine Frau hinter ihr sagen: »Wie schlimm, dass es Ulla treffen musste. Sie war doch ein anständiges Mädchen.«
Diese Worte, die Fine ungewollt mit angehört hatte, durchfuhren sie wie ein Schlag. Noch wusste sie nicht, was daran sie so aufrüttelte, denn dass Ulla ein anständiges Mädchen gewesen war, zog ja niemand in Zweifel.
Fine riss die Augen auf, blieb aber ganz ruhig stehen und blickte sich vorsichtig um. Der Satz war von der Ravenzacherin gekommen, die im Gespräch mit einer anderen Frau vertieft war. Auch diese Frau kannte Fine: Es war die Schwägerin der Ravenzacherin, das Eheweib ihres Bruders.
Und gleich darauf konnte Fine die Antwort der Schwägerin vernehmen. Leise aber deutlich sagte sie: »Anständig war Ulla ganz sicher. Nie hat man gehört, dass sie sich einem Mannsbild hingegeben hat. Und auch wenn sie ein Kind getragen hätte. Sie hätte es wohl nie abgehen lassen so wie Lisbeth.«
»Ganz sicher nicht«, bestätigte gleich darauf die Ravenzacherin.
Fine erschrak. Hatte sie richtig gehört? Und alles
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