Das Magdalena-Evangelium: Roman
aufgrund ihrer Herkunft noch aus religiösen Gründen von sich sagen.
Sie hielt bei ihrem Aufstieg viele Male inne, um das geradezuschmerzhaft schöne Spiel von Licht und Schatten zu bewundern, das über die bizarre Mondlandschaft glitt und auf den Salzkristallen des seltsamen stehenden Gewässers unter ihr glitzerte. Der Anblick inspirierte sie, gab ihr die Kraft, sich weiter den Berg hinaufzuquälen.
Sie bekam Gesprächsfetzen der anderen Pilger mit, die mit ihr hinaufstiegen. Sie verstand kein Hebräisch, aber ihr Eifer für diese Wallfahrt war unverkennbar. Sie fragte sich, ob sie über die Märtyrer von Masada redeten, die sich entschieden hatten, lieber zu sterben als in Knechtschaft zu leben und ihre Frauen und Kinder römischer Versklavung und Entehrung zu unterwerfen.
Als sie den Gipfel erreichte, erkundete sie die Ruinen dessen, was einmal eine große Festung gewesen war, wanderte durch zerfallene Räume und von Schutt begrabene Mauern. Weil die Stätte überraschend weitläufig war, fand sie sich bald allein, getrennt von den anderen Pilgern, die sich aus eigenen Gründen anderswo an dem heiligen Ort ihren Weg suchten. Eine allumfassende Stille lag über diesem Ort, ein heiliges Schweigen, das fast so zum Greifen schien wie die Steine. Maureen tauchte ein in jenes Gefühl, als sie fast geistesabwesend auf die Überreste eines römischen Mosaiks starrte. Dann sah sie das Kind.
Es geschah so schnell und kam völlig unverhofft, wie ihre anderen Visionen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie bemerkte, dass das Kind da war; sie wusste einfach, dass sie nicht mehr allein war. Ungefähr drei Meter entfernt starrte sie ein kleines Mädchen, ein Kind von nicht mehr als vier oder fünf Jahren, mit riesigen Augen an. Es sprach kein Wort, doch in dem Augenblick wusste Maureen, dass der Name des Kindes Hannah war – und dass es Zeuge von Ereignissen geworden war, die kein Kind je mit ansehen sollte.
Maureen wusste auch, dass das Kind irgendwie die schreckliche Tragödie von Masada überlebt hatte. Es war von diesem Ort entkommen und hatte die Geschichten davon weitergegeben. Das war sein Erbe, sein Vermächtnis: die Wahrheitüber das, was dort mit ihrem Volk geschehen war, anderen mitzuteilen.
Sie wusste nicht, wie lange das Kind vor ihr stand. Ihre Visionen hatten etwas Zeitloses. Waren es Minuten? Sekunden? Oder Ewigkeiten?
Später sprach Maureen mit einem der israelischen Führer in Masada. Er war jung und offen, und es überraschte sie selbst, dass sie ihm von ihrer Begegnung erzählte. Er zuckte mit den Schultern und sagte, er halte es nicht für unnatürlich oder ungewöhnlich, dergleichen in einem von so vielen Gefühlen beladenen Ort zu sehen. Er erklärte, dass es Legenden gebe, die von Überlebenden aus Masada berichteten, von einer Frau und mehreren Kindern, die sich in einer Höhle versteckten, schließlich entkommen seien und die wahre Geschichte in ihrem Herzen bewahrt hätten.
Maureen war sich sicher, dass die kleine Hannah eines dieser Kinder gewesen war.
Sie hatte sich seit jenem Tag so oft gefragt, warum sie jene Vision gesehen hatte, warum es ihr widerfahren war. Sie fühlte sich dessen unwürdig, einer solch tiefen Begegnung mit der tragischen Geschichte des jüdischen Volkes teilhaftig zu werden. Aber nach ihrem Erlebnis auf Montségur begann sich alles zu einem Muster zu fügen, das Maureen allmählich zu begreifen begann. Die kleine Hannah und das als La Paschalina bekannte Katharer-Mädchen waren verwandt – im Geiste, wenn nicht im Blute. Sie waren die Kinder, die übrig geblieben waren, um die Geschichten zu bewahren, damit die Wahrheit nie verloren ginge. Es war ihr Schicksal, die erhabensten Lehrer der Menschheit zu werden. Diese kleinen Mädchen verkörperten die Geschichte und das Überleben der menschlichen Art. Ihre Erfahrungen hatten keine Grenzen; sie gehörten allen Menschen, ungeachtet ihrer Volkszugehörigkeit oder Religion.
Wenn man diese Verbindung begriff, könnten dann nicht wir alle in dem Wissen zusammenkommen, dass wir alle letztlich zu einem Stamm gehören?
Maureen dankte Hannah und Paschalina im Stillen, als sie ihren Tagebucheintrag beendete.
Tammy rannte in das Château und hoffte, den Kontakt zu jedermann vermeiden zu können, bis sie geduscht war. Sie war erschöpft und fühlte sich schmutzig am ganzen Körper. Doch die Einsamkeit wollte sich nicht so ohne weiteres einstellen. Als sie die Tür ihres Zimmers erreichte, wurde sie von Roland
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