Das Magdalena-Evangelium: Roman
du?«
Sie wartete Maureens Antwort nicht ab. »Jeanne war die Verheißene, und alle wussten es. Sie sollte die Prophezeiung erfüllen. Sie hatte Visionen, die sie zum Magdalena-Evangelium geführt hätten. Deshalb musste man sie für immer zum Schweigen bringen.«
Maureen war entgeistert. »Aber … ist sie etwa am gleichen Tag geboren wie ich?«
»Ja, aber so steht es nicht in den Geschichtsbüchern. Da heißt es immer, sie sei irgendwann im Januar geboren. Das Datum wurde absichtlich vertuscht, um ihre wahre Identität zu verbergen, nämlich die des unehelichen Königskindes und der lang erwarteten Gralsprinzessin.«
»Woher weißt du das alles? Gibt es Belege dafür?«
»Ja. Aber du musst aufhören, wie eine Wissenschaftlerin zudenken. Du musst zwischen den Zeilen lesen, denn da ist alles zu finden. Und vergiss die Volkssagen nicht. Du bist Irin, du kennst die Macht der mündlichen Überlieferung. Die Katharer waren darin nicht anders als die Kelten; im Gegenteil, es gibt tonnenweise Beweismaterial, dass diese beiden Kulturen sich in ganz Frankreich und Spanien miteinander vermischt haben. Sie haben ihre Tradition geschützt, weil sie eben nichts aufgeschrieben und so auch keine Beweise für ihre Feinde hinterlassen haben. Aber die Legende von Jeanne d’Arc als der Verheißenen ist weit verbreitet. Man muss gar nicht mal so tief graben, um sie zu finden.«
»Ich dachte immer, die Engländer hätten Jeanne hingerichtet.«
»Falsch. Die Engländer haben sie verhaftet, aber es sind französische Geistliche gewesen, die sie verurteilt und auf ihrer Hinrichtung bestanden haben. Jeanne wurde von einem Kleriker namens Cauchon verhört. In dieser Gegend ist das ein ziemlicher Witz, denn cochon heißt auf Französisch ›Schwein‹. Jedenfalls war es dieses Schwein, das aus Jeanne das Geständnis herauspresste und dann die Beweise verdrehte, um ihr Martyrium zu erzwingen. Cauchon musste Jeanne töten lassen, bevor sie ihre Bestimmung als Verheißene erfüllen konnte.«
Maureen hörte gebannt zu, während Tammy fortfuhr. »Und Jeanne war nicht die letzte Schäferin, die sterben musste. Erinnerst du dich an die Statue der Heiligen in Rennes-le-Château? Das Mädchen, das in seiner Schürze Rosen trug?«
»St. Germaine.« Maureen nickte. »Ich habe in der Nacht danach von ihr geträumt.«
»Das liegt daran, dass auch sie eine Tochter des FrühlingsÄquinoktiums und der Auferstehung ist. Aus naheliegenden Gründen wird sie mit einem Paschalamm dargestellt, aber auch zusammen mit einem jungen Widder, der ihre Geburt zu Beginn des Sternzeichens Aries symbolisiert.«
Maureen erinnerte sich nur zu gut an die Statue. Das ernste Gesicht der jungen Schäferin hatte sie tief berührt.
»Ihre Mutter war ein edler Abkömmling der Blutlinie, die Marie de Nègre ihrer Zeit. Als Germaine noch ein kleines Kind war, kam ihre Mutter unter mysteriösen Umständen ums Leben. Germaine wurde von brutalen Pflegeeltern aufgezogen, die sie im Schlaf ermordeten, als sie zweiundzwanzig Jahre alt war.«
Tammy, unvermittelt ernst geworden, nahm Maureens Hand. »Hör mir zu, Maureen. Seit tausend Jahren gibt es Menschen, die bereit sind zu töten, um die Entdeckung von Magdalenas Evangelium zu verhindern. Verstehst du jetzt, was ich dir sagen will?«
Der Ernst der Lage drang in Maureens Bewusstsein ein. Bei Tammys abschließenden Worten wurde ihr plötzlich ganz kalt.
»Es gibt immer noch Leute, die töten würden, um die Erfüllung dieser Prophezeiung zu verhindern. Wenn diese Leute glauben, dass du die Verheißene bist, schwebst du in großer Gefahr.«
Tammy hatte vorsorglich eine Flasche guten Languedoc-Wein mitgebracht. Während die Freundinnen schweigend dasaßen, schenkte sie Maureen nach.
Endlich brach Maureen das Schweigen. Sie sah Tammy fest in die Augen und sprach in leicht vorwurfsvollem Ton. »Du hast schon damals in L.A. mehr gewusst, als du mir gesagt hast, nicht wahr?«
Tammy seufzte und ließ sich auf das Sofa zurückfallen. »Es tut mir wirklich leid, Maureen. Damals konnte ich dir noch nicht alles sagen, was ich wusste.«
Und ich kann es immer noch nicht, dachte sie düster, bevor sie fortfuhr: »Ich wollte dir keine Angst machen. Du hättest diese Reise doch nie gemacht – und das konnten wir nicht riskieren.«
»Wir? Du meinst wohl dich und Sinclair? Gehörst du etwa auch zu seiner Blaue-Äpfel-Gesellschaft?«
»So simpel ist das nicht. Sieh mal – Sinclair wird alles tun, was in seiner Macht steht, um dich zu
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