Das Magdalena-Evangelium: Roman
stark, ebenso stark wie sein anerzogenes Misstrauen, Außenstehende hinzuzuziehen, wenn es um den Schatz und die Blutlinie ging. Im Augenblick fehlten ihm also die Worte. Roland kniete vor Maureens Sofa nieder.
»Mademoiselle«, bat er. »Dies ist Ihre Entscheidung. Ichglaube, Sie hat Sie zu uns gebracht, und durch Ihren Mund wird Sie ihren Entschluss kundtun.«
Maureen wollte Roland antworten, doch in diesem Moment überkam sie eine Welle der Benommenheit. Peter und Tammy streckten gleichzeitig die Arme aus, um sie aufzufangen. Maureen wurde schwarz vor Augen, doch es dauerte nur eine Sekunde. Und dann kam die Offenbarung mit glasklarer Deutlichkeit. Als sie die Worte sprach, klangen sie wie ein Befehl.
»Öffnen Sie die Krüge, Roland!«
Der Befehl kam aus ihrem Mund, aber die Stimme gehörte nicht Maureen.
Sinclair und Roland hoben die Krüge behutsam aus der Truhe und stellten sie auf den großen Mahagonitisch.
Roland verneigte sich mit außergewöhnlichem Respekt vor Maureen. »Welchen zuerst?«
Maureen, auf beiden Seiten von Peter und Tammy gestützt, legte einen Finger auf einen der Krüge. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, warum sie gerade diesen gewählt hatte, sie wusste jedoch, dass es der richtige war. Roland folgte ihrer Anweisung und fuhr mit dem Finger am Rand des Krugs entlang. Sinclair holte einen alten Brieföffner aus der Schublade seines Schreibtischs und machte sich an der Wachsversiegelung zu schaffen. Tammy stand wie gebannt daneben, sie ließ Roland nicht aus den Augen.
Peter wirkte wie versteinert. Er war der Einzige unter ihnen, der wusste, was es bedeutete, mit antiken Schriftstücken und unersetzlichen Dokumenten aus der Vergangenheit zu arbeiten. Gut möglich, dass sie entsetzlichen Schaden anrichten würden. Schon die Krüge zu beschädigen wäre eine Schande.
Wie zur Unterstreichung seiner Gedanken durchbrach ein scheußliches Kratzen die angespannte Stille. Sinclairs Brieföffnerhatte den Rand des ersten Krugs beschädigt und einen Tonsplitter herausgebrochen. Peter zuckte zusammen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Doch lange hielt er es nicht aus. Er hörte, wie Maureen neben ihm tief Luft holte, und blickte wieder auf.
»Meine Hände sind zu groß, Mademoiselle«, sagte Roland zu Maureen.
Sie wagte sich auf unsicheren Beinen zum Tisch und ließ eine Hand in den beschädigten Krug geleiten.
Was sie mit äußerster Langsamkeit und Vorsicht zutage förderte, glich zwei Schriftrollen, geschrieben auf sehr altem Papier, das wie Leinen aussah. Die schwarze Tinte der Schrift stach deutlich von den verblichenen Seiten ab. Die Buchstaben waren klein, deutlich und gut lesbar.
Peter beugte sich über Maureen. Nun konnte er seine Erregung nicht länger zurückhalten. Er schaute in die verzückten Gesichter der anderen, wandte sich jedoch an Maureen. Mit rauer Stimme gab er sein Urteil ab: »Die Schrift. Es ist … Griechisch.«
Maureen setzte der Atem aus. »Kannst du etwas davon entziffern?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Doch sie kannte die Antwort bereits, denn aus Peters Gesicht war sämtliche Farbe gewichen. In diesem Augenblick begriffen alle Anwesenden, dass die Welt für Father Peter Healy nie mehr die gleiche sein würde.
»Ich bin Maria, genannt Magdalena« , übersetzte er langsam. »Und …« Er hielt inne, nicht um der dramatischen Wirkung willen, sondern weil er nicht sicher war, ob er imstande sein würde fortzufahren. Doch ein Blick auf Maureens Gesicht belehrte ihn, dass er keine andere Wahl hatte.
»Ich bin die rechtmäßig angetraute Ehefrau von Jesus, genannt der Messias, der ein Königssohn aus dem Hause David war.«
Kapitel sechzehn
Château des Pommes Bleues
28. Juni 2005
Peter arbeitete die ganze Nacht an der Übersetzung. Maureen weigerte sich strikt, den Raum zu verlassen, ruhte sich nur von Zeit zu Zeit auf dem Samtsofa aus. Roland brachte Extrakissen und eine Tagesdecke. Maureen lächelte ihm vertrauensvoll zu, während er sich um sie bemühte. Seltsamerweise ging es ihr sehr gut. Ihr Kopf tat kein bisschen weh, und sie fühlte sich erstaunlich kräftig.
Sie blieb auf dem Sofa, da sie Peter nicht bedrängen wollte. Sinclair sah ihm schon genug auf die Finger. Aber Peter schien das nichts auszumachen; wahrscheinlich nahm er es nicht einmal richtig wahr. Peter war vollkommen versunken in die heilige Natur seiner Aufgabe als Schreiber.
In regelmäßigen Abständen tauchte Tammy auf, um seine Fortschritte zu prüfen. Sie ging immer spät
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