Das Magdalena-Evangelium: Roman
es hören wollten. Es sei keine Lehre für eine Elite, pflegte er zu sagen, sondern eine gute Botschaft für alle. Dieser Unterschied war des Öfteren Anlass für Diskussionen zwischen Isa und Johannes gewesen.
Johannes hatte nach dem Tod seiner Eltern viel Zeit an den öden Ufern des Toten Meeres verbracht. Dort verband er sich mit den Essenern von Qumran, einer strengen Asketensekte, aus der viele seiner strikten Gebote stammten. Die Qumran-Sekte lebte unter rauen Bedingungen und verachtete jene, die sie »die Sucher nach dem bequemen Leben« nannte. Sie sprachen oft von einem Lehrer der Gerechtigkeit, der Reue und unbedingten Gehorsam gegenüber den Geboten predigen würde.
Auch Isa hatte geraume Zeit unter den Essenern gelebt, und er erzählte Maria von ihrer Lehre. Er verehrte ihre Hingabe an Gott und die Gebote, pries ihre guten und wohltätigen Werke. Er besaß Gefährten unter ihnen und zog sich immer wieder zur Meditation in die Einsamkeit von Qumran zurück. Aber während Johannes die unnachgiebigen Ansichten der Essener vollauf teilte, lehnte Isa viele ihrer Grundsätze als letztlich zu hart und selbstgerecht ab.
Isa hatte Maria noch andere Dinge über Johannes erzählt, über die seltsamen Gewohnheiten, die er in Qumran angenommenhatte: beispielsweise Heuschrecken mit Honig zu essen oder seltsame Gewänder aus Tierhäuten und grober Kamelwolle zu tragen. Er beschrieb, wie sein Cousin, der Täufer, in der Wüste lebte, nichts als den Himmel über seinem Kopf, sodass er sich Gott näher fühlte. Dies war nicht der angemessene Wohnort für eine Edelfrau oder ein Kind. Und es war keineswegs das, worauf Maria Magdalena ihr ganzes junges Leben lang vorbereitet worden war.
Nun lag alles in Lazarus’ Hand, dachte sie traurig. Wieder erhoben sich die Stimmen im Nebenzimmer, doch Maria spürte nur noch ihre Tränen. Sie konnte die Stimmen nicht mehr voneinander unterscheiden. War das gerade Lazarus gewesen? Was sagte er? Marias Bruder liebte und verehrte Isa als Mann und als Nachkomme Davids, obgleich er selbst nie den Reformen des Rechten Weges der Nazarener gefolgt war. Lazarus war in hohem Maße Traditionalist; sein Vater war sowohl Pharisäer als auch Geldgeber des Tempels in Jerusalem gewesen.
Hannas nun zwang Lazarus zu einer entsetzlichen Entscheidung: Wenn er Isa unterstützte, den rechtmäßigen König der Dynastie und Erben aller Prophezeiungen, würde er aus dem Tempel ausgeschlossen werden. Dies war die versteckte Drohung in den Worten des Hohepriesters. Lazarus blieb dann keine andere Wahl, als sich den Nazarenern anzuschließen und eine Form des Glaubens zu vertreten, von der er nicht überzeugt war.
Die Gemäßigteren im Volk, darunter auch Lazarus, waren zufrieden gewesen, solange Isa von den Nazarenern wie auch von den Hohepriestern anerkannt wurde. Aber nun standen sie am Vorabend einer schrecklichen Glaubensspaltung, einer Trennung von zwei mächtigen Parteien, die Feindschaft unter den edlen Familien Israels säen und bitterer Rivalität Tür und Tor öffnen würde. Eine Wahl würde zu treffen sein, die für viele innerhalb der einfachen Bevölkerung nur schwer nachzuvollziehen war.
Doch hier und jetzt sorgte sich Maria nur um eine Wahl, die getroffen werden sollte.
Lazarus’ Entscheidung, das Gesetz der Hohepriester zu achten, würde viel mehr zerstören als Marias Jungmädchenträume, es würde sie in eine Ehe treiben, vor der sie zurückschauderte. Und es war eine Entscheidung, die den Lauf der Geschichte für Tausende von Jahren unwiderruflich verändern sollte.
Isa traf an jenem Abend mit Lazarus eine Vereinbarung: Er wollte derjenige sein, der Maria den Beschluss mitteilte. Lazarus willigte, offenbar mit großer Erleichterung, ein, und Maria wurde in eine stille Kammer gebracht, um mit dem Mann zu sprechen, den sie immer für ihren zukünftigen Ehemann gehalten hatte.
Als Isa ihren zitternden Leib und ihr verweintes Gesicht gewahrte, wusste er schon, dass sie vieles heimlich mit angehört hatte. Und als Maria die Trauer in Isas Augen sah, wusste sie, dass ihr Schicksal besiegelt war. Sie warf sich in seine Arme und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte.
»Aber warum?«, hörte sie nicht auf zu fragen. »Warum hast du zugestimmt? Warum hast du dir dein Königtum nehmen lassen, das dir rechtmäßig zusteht?«
Isa strich ihr beruhigend übers Haar und lächelte in seiner tröstenden Art. »Vielleicht ist mein Königtum nicht von dieser Welt, meine Taube.«
Maria schüttelte
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