Das Magdalena-Evangelium: Roman
dafür, dass Frauen keine Autoritätsposten oder gesellschaftliche Freiheiten erlaubt werden durften; es lag auf der Hand, dass sie dann zu Dirnen wurden. Oft benutzte Johannes Herodes und Herodias als Beispiel dafür, wie verderbt die Nazarener waren.
Doch während der Täufer sich den Tetrarchen zum Feind machte, wurde Isa von Herodes’ Frau sehr verehrt. Als Salome, Herodias’ einzige Tochter, volljährig wurde, hatte sie sie zu dem Nazarener geschickt, damit sie die Lehre des Rechten Weges beginnen sollte. Salome und Maria waren während ihrer Zeit in Galiläa gute Freundinnen geworden, und dieses Band war durch ihre spirituelle Liebe zu der Hohen Maria und ihrem Sohn noch verstärkt worden.
Die beiden Frauen, Schwestern im Glauben der Nazarener, umarmten einander. Doch sie hatten kaum Gelegenheit, einander Fragen zu stellen, denn in diesem Augenblick kam Isa herein.
Bei ihm waren seine Mutter und zwei seiner jüngeren Brüder, Jakob und Judas, sowie die Fischerbrüder vom See Genezareth und ein leicht mürrisch aussehender Mann, der, soweit Maria wusste, Philippus hieß. Isa spendete allen einen freundlichen Gruß, doch bei Maria blieb er stehen. Er schloss sie in seine Arme, mit Anstand und dem Respekt vor der edlen Frau, die eines anderen Mannes Eheweib war. Dann sah er sie mahnend an, um sein Erstaunen auszudrücken, dass sie den Befehlen ihres Bruders zuwidergehandelt hatte, sagte jedoch nichts.
Maria lächelte zu ihm auf und legte eine Hand aufs Herz. »Das Königreich Gottes ist in meinem Herzen, und kein Unterdrücker kann es mir nehmen.«
Isas Antwort war ein Lächeln voller Wärme. Dann begab er sich an die Stirnseite des Raums und begann zu predigen.
Es war eine wunderbare Nacht, erfüllt von der Liebe der Freunde und den Worten des Rechten Weges. Maria hatte fast vergessen, wie wichtig ihr die Lehre geworden und welch ein begnadeter Lehrer Isa war. Zu seinen Füßen zu sitzen und seiner Predigt zu lauschen war die Erfahrung von Gottes Reich schon auf Erden. Sie konnte nicht begreifen, wie jemand diese wundervolle Lehre verdammen konnte oder warum jemand wissentlich diese Worte von Liebe und Mitleid ablehnen sollte.
Als Isa sich erhob, um sich zu verabschieden, kam er zu Maria herüber und berührte sanft ihren Leib.
»Du erwartest ein Kind, kleine Taube.«
Maria schnappte nach Luft. Johannes war eine Nacht bei ihr geblieben, um seiner ehelichen Pflicht zu genügen, abersie hätte nicht geglaubt, dass sie empfangen hatte. »Bist du sicher?«
Isa nickte. »In deinem Schoß wächst ein Knabe heran. Pass auf dich auf, mein Kleines. Denn ich möchte, dass du in Sicherheit gebärst.«
Dann glitt ein Schatten über sein Gesicht. »Sage deinem Bruder, du müsstest die Zeit bis zur Niederkunft in Galiläa verbringen. Frage, ob er erlaubt, dass du beim ersten Tageslicht davonziehen darfst.«
Diese Rede gab Maria Rätsel auf. Bethanien lag nahe an Jerusalem; hier gab es die besten Hebammen und Medikamente, falls es Komplikationen geben sollte. Warum sollte sie Bethanien morgen verlassen? Zudem würde Lazarus noch einen ganzen Tag fortbleiben. Aber Isa hatte etwas gesehen, als der Schatten über sein Gesicht glitt: etwas, das ihm auftrug, Maria zum raschen Verlassen Bethaniens zu drängen.
Maria konnte nicht wissen, dass Isa in der klaren Vision einer Prophezeiung gesehen hatte, dass sie so weit wie möglich von Johannes fortgehen musste.
»Hure!«, schrie Johannes, während er Maria wieder und wieder schlug. »Ich wusste doch, dass es zu spät ist für dich und deine dirnenhafte Nazarener-Art! Wie kannst du es wagen, deinem Ehemann und deinem Bruder den Gehorsam zu verweigern?«
Martha und Lazarus hielten sich auf der anderen Seite des Hauses auf, doch sie hörten alles. Martha auf ihrer Seite des Bettes weinte leise, während sie die Schläge auf Marias zierlichen Körper fallen hörte. Es war ihre Schuld; sie hatte Maria ermutigt, den unmissverständlichen Befehlen von Mann und Bruder zuwiderzuhandeln. Martha hatte das Gefühl, selbst diese Schläge verdient zu haben.
Lazarus saß regungslos da, erstarrt vor Angst und Hilflosigkeit. Er zürnte Martha und Maria, doch noch schlimmer fand er die Schläge, die seine Schwester von der Hand ihres eigenen Mannes bezog. Leider konnte er überhaupt nichts dagegen tun. Wenn er sich einmischte, würde er Johannes noch tiefer kränken, und deshalb wagte er es nicht. Außerdem war es normal, dass ein Mann sein ungehorsames Weib züchtigte. In den
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