Das Magdalena-Evangelium: Roman
Häusern der Orthodoxen wurde es sogar erwartet. Johannes handelte getreu seiner Auslegung der Gebote.
Immer noch rätselten sie, wie Johannes von Marias Teilnahme an der Nazarener-Versammlung erfahren hatte. War im Hause Simons ein Informant gewesen? Oder war Johannes so ein mächtiger Prophet, dass er Maria in seinen Visionen erkannt hatte? Auf welchem Wege er es auch erfahren haben mochte, am Nachmittag des nächsten Tages jedenfalls war Johannes rasend vor Wut nach Bethanien gekommen, entschlossen, jeden zu strafen, der in die Täuschung verwickelt war. Er wusste, dass seine junge Frau am Vorabend andächtig zu Füßen seines Vetters gesessen hatte. Und schlimmer noch, sie hatte mit der schamlosen Brut dieser Hure Herodias zusammengesessen! Dass Maria ihre Sympathien für die Nazarener und ihre Verbundenheit mit Salome zur Schau stellte, war für Johannes eine Quelle der Scham und Demütigung. Das konnte seinem Ruf erheblichen Schaden zufügen.
Das verfluchte Weib! Konnte sie nicht begreifen, dass jeder Makel auf seinem Namen sein Werk beeinträchtigte, die Botschaft Gottes herabsetzte? Dies war der Beweis, dass Frauen keinen Verstand besaßen, dass ihnen die Fähigkeit abging, Dinge bis zum Ende zu durchdenken. Frauen waren von Natur aus sündige Kreaturen, Töchter von Eva und Isebel. Allmählich drängte sich ihm der Schluss auf, dass Frauen von der Erlösung ausgeschlossen waren.
All dies schrie er und noch mehr, während er auf Maria einschlug. Sie duckte sich in eine Ecke und versuchte vergeblich,mit über den Kopf gebreiteten Armen ihr Gesicht zu schützen. Schon breitete sich ein dunkelroter Ring um ein Auge aus, ihre Unterlippe war geschwollen und blutete, weil Johannes’ Handrücken einen Zahn getroffen hatte, sodass Maria sich in die Lippe gebissen hatte. Sie schaffte es gerade noch zu rufen: »Hör auf, tu dem Kind nichts an!«
Johannes blieb mit erhobener Hand stehen. »Was hast du gesagt?«
Maria atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Ich erwarte ein Kind.«
Johannes maß sie mit kaltem Blick. »Du bist eine Nazarener-Dirne, die ohne Anstandsdame eine Nacht im Hause eines anderen Mannes verbracht hat. Ich kann nicht einmal sicher sein, dass es mein Kind ist.«
Maria mühte sich, auf die Beine zu kommen. »Ich bin nicht das, was du sagst. Ich bin als jungfräuliche Braut zu dir gekommen und habe nie einen anderen Mann außer dir angesehen. Du bist mein Ehemann nach Recht und Gesetz.« Sie betonte die letzten sieben Worte. »Du bist wütend, weil ich dir nicht gehorcht habe, und ich verdiene deinen Zorn.«
Nun stand sie ihm aufrecht gegenüber. Einen ganzen Kopf kleiner als er, richtete sich die zierliche Frau auf und schaute ihm ins Gesicht. »Aber dein Kind verdient es nicht, dass seine Legitimität bezweifelt wird. Er wird eines Tages der Prinz unseres Volkes sein.«
Johannes gab einen kehligen Laut von sich und wandte sich zum Gehen. »Ich werde Lazarus die strikten Bedingungen für deine Schwangerschaft und Niederkunft mitteilen.« Er öffnete die Tür und trat hinaus in den Flur. Und ohne sich noch einmal umzudrehen, versetzte er ihr den letzten Schlag.
»Wenn das Kind ein Mädchen ist, werde ich euch beide frohen Herzens verlassen.«
Spät am nächsten Nachmittag erst beschloss Maria, sich in den Garten zu wagen, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Fast den ganzen Tag hatte sie im Bett gelegen, ermattet von den Folgen der Schläge. Im Garten, der ringsum von Mauern umgeben war, würde niemand die Male der Schande auf ihrem Gesicht sehen können. Das zumindest nahm sie an.
Doch dann hörte sie ein Rascheln in den Büschen, bei dem ihr das Herz stehen blieb. Was war das? Wer war dort? »Hallo?«, rief sie mit unsicherer Stimme.
»Maria?« Das Flüstern einer Frau und noch mehr Geraschel. Plötzlich tauchte eine Gestalt aus den Hecken an der Gartenmauer auf.
»Salome! Was tust du hier?« Maria lief, die Freundin zu umarmen. Die Prinzessin aus dem Hause Herodias hatte sich angeschlichen wie ein gewöhnlicher Dieb.
Salome konnte nicht sofort antworten. Beim Anblick von Marias zerschlagenem Gesicht erstarrte sie.
Maria wandte den Kopf ab. »Ist es so schlimm?«, fragte sie leise.
Salome spuckte auf den Boden. »Meine Mutter hat recht. Der Täufer ist eine Bestie. Wie kann er es wagen, dich so zu behandeln! Dich, eine Edelfrau!«
Maria setzte zu einer Verteidigung ihres Ehemannes an, merkte jedoch, dass sie dazu nicht mehr die Kraft hatte. Plötzlich war sie erschöpft,
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