Das Magdalena-Evangelium: Roman
wollte sich zu weit von den Schriftrollen entfernen, aus Angst, etwas zu verpassen. Beiden fiel das fiebrige Glänzen in Peters Augen auf, als sie das Zimmer betraten.
Roland trug einem Hausmädchen auf, Tee zu bringen. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, begann Peter an der Stelle, wo das letzte Buch aufgehört hatte.
»Sie nennt es das ›Buch der Dunklen Zeit‹. Es beschreibt die letzte Lebenswoche Jesu Christi.«
Sinclair wollte eine Frage stellen, aber Peter gebot ihm Schweigen. »Sie kann es viel besser erzählen als ich.«
Und er begann zu lesen.
E s ist wichtig zu wissen, wer Judas Ischariot war, um seine Verbindung zu mir, zu Isa und den Lehren des Rechten Weges zu verstehen. Wie Simon war er ein Zelot und hegte den leidenschaftlichen Wunsch, die Römer aus unserem Land zu vertreiben. Er hatte für seine Überzeugung getötet und war mehr als gewillt, dies wieder zu tun. Bis Simon ihn zu Isa brachte.
Judas nahm die Lehre des Rechten Weges an, doch sein Übertritt vollzog sich weder leicht noch rasch. Judas stammte von Pharisäern ab und hielt sich strikt an das Gesetz. Als junger Mann war er Johannes gefolgt und misstraute mir wegen allem, was er über mich gehört hatte. Doch mit der Zeit wurden wir Freunde, Bruder und Schwester auf dem Rechten Weg, weil Isa die Gabe hatte, alle miteinander zu versöhnen. Und doch geschah es, dass Judas’ alte Überzeugungen wieder zum Vorschein kamen, und dadurch entstanden Spannungen unter den Anhängern. Er war der geborene Anführer und wurde es nicht müde, Veränderungen vorzuschlagen. Isa bewunderte dies, doch manche seiner Anhänger taten es nicht. Ich aber verstand Judas. Wie ich sollte auch er in späteren Zeiten missverstanden werden.
Judas glaubte, dass wir jede Gelegenheit wahrnehmen sollten, um unsere Anhängerschaft zu vermehren, und dies sollten wir durch Gaben an die Armen erreichen. Isa ernannte Judas zum Schatzmeister, und es wurde seine Aufgabe, Geld zur Verteilung unter die Bedürftigen aufzutreiben. In der Erreichung seiner Ziele war er ehrlich und gewissenhaft, doch er ging nie einen Kompromiss ein.
Der heftigste Streit entbrannte in jener Nacht, als ich Isa in Bethanien salbte, im Hause des Simon. Ich nahm eine versiegelte Alabasterschale, die uns aus Alexandria geschickt worden war. Darin war ein Balsam aus teurem, aromatischem Nardenöl mit Myrrhe. Ich brach das Siegel und salbte Isas Kopf und Füße mit dem Balsam, ernannte ihn damit gemäß der Tradition unseres Volkes und dem Hohelied Salomos zum Messias. Es war einspiritueller Moment für uns alle, erfüllt von Hoffnung und der Kraft der Symbole.
Doch Judas war nicht einverstanden, er zürnte und schimpfte vor den anderen mit mir; er sagte: ›Dieser Balsam war sehr wertvoll. Versiegelt hätte er einen guten Preis gebracht; Geld, das wir unserer Sammlung für die Armen hätten hinzufügen können.‹
Ich musste mich nicht für meine Handlungen rechtfertigen, denn Isa übernahm dies. Er tadelte Judas, indem er sagte: ›Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer bei euch. Und lass mich noch Folgendes sagen: Wann immer die Taten meines Lebens in der Welt verkündet werden, wird der Name dieser Frau neben dem meinen stehen. Lass sie es tun, damit es ihr zum Gedächtnis bewahrt wird für die guten Werke, die sie für uns getan hat.‹
Es war ein Augenblick, der zeigte, dass Judas die heiligen Rituale des Rechten Weges nicht ganz verstand. Manche der Auserwählten wurden unwillig – und manche vertrauten danach Judas nicht mehr so recht.
Doch wie ich gesagt habe: Ich trage ihm diese und andere seiner Handlungen nicht nach. Judas konnte nicht überwinden, wer er tief im Herzen war, und er handelte immer nach bestem Ermessen.
Ich trauere noch immer um ihn.
Das Evangelium von Arques nach Maria Magdalena
Das Buch der Dunklen Zeit
Kapitel neunzehn
Jerusalem
Im Jahre 33
Es war ein ereignisreicher Tag für die Nazarener gewesen. Isas Einzug in Jerusalem hatte die erhoffte öffentliche Aufmerksamkeit hervorgerufen, ja, die Erwartungen waren sogar übertroffen worden. Als die Anhänger zusammengerufen wurden, um das Gebet des Rechten Weges zu lernen – das Isa nun das »Vater unser« nannte –, stellte sich heraus, dass die Grotte auf dem Ölberg zu klein war, um die Menschenmenge zu fassen. Die Menschen standen über den ganzen Hügel verteilt und warteten, um zu ihrem Gesalbten, ihrem Messias zu kommen, damit er sie das Gebet lehren
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