Das Magdalena-Evangelium: Roman
möge.
Isa blieb an seinem Platz, bis jeder Mann, jede Frau und jedes Kind das Gebet verstanden und in ihr Herz aufgenommen hatten.
Als sie den Ölberg verließen und sich der Stadt näherten, wurden die Nazarener von zwei römischen Zenturionen aufgehalten. Die Römer bewachten das östliche Tor, das in der Nähe von Pilatus’ Wohnstätte in der Festung Antonia lag. In gebrochenem Aramäisch forderten sie die Gruppe auf, ihr Ziel zu nennen. Isa trat vor und überraschte sie, indem er perfekt Griechisch sprach. Er deutete auf einen der Zenturionen, dessen Hand dick verbunden war.
»Was ist dir geschehen?«, fragte er.
Der Zenturio war ob der Frage verblüfft, doch er antwortete freimütig: »Ich bin während der Nachtwache auf die Felsen gestürzt.«
»Zu viel Wein«, witzelte der andere Wachsoldat, ein abstoßenderMensch mit einer gezackten Narbe auf der linken Wange.
Der verletzte Zenturio funkelte ihn wütend an. »Hört nicht auf das, was Longinus sagt. Ich habe das Gleichgewicht verloren.«
»Das muss sehr schmerzen«, stellte Isa schlicht fest.
Der Zenturio nickte. »Ich glaube, ich habe mir die Hand gebrochen, hatte aber noch keine Zeit, zum Arzt zu gehen. Wegen der Menschenmengen, die zum Paschafest in die Stadt strömen, müssen wir unablässig Wache halten.«
»Darf ich es mal sehen?«, fragte Isa.
Der Mann streckte die verbundene Hand vor, die in einem unnatürlichen Winkel vom Handgelenk abstand. Isa nahm sie sanft in seine Hände. Er schloss die Augen und sprach ein stilles Gebet, während seine Hände sich sanft, aber nachdrücklich um die Hand des Soldaten schlossen. Die Augen des verletzten Römers wurden immer größer. Die versammelten Nazarener schauten der Heilung zu. Selbst der Zenturio mit der Narbe schien in atemlose Betrachtung versunken zu sein.
Isa öffnete die Augen wieder und schaute den Römer an. »Jetzt sollte es dir besser gehen.« Und als er die Hand losließ, sahen die Umstehenden, dass sie wieder gerade gerichtet und kräftig war. Der Römer stotterte hilflos, er brachte keinen Ton heraus. Er wickelte den Verband ab und bewegte seine Finger. Seine himmelblauen Augen verschleierten sich, und er schaute zu Isa auf. Er wagte es nicht, etwas zu sagen, um sich nicht vor den anderen Soldaten lächerlich zu machen. Isa wusste das und ersparte ihm die Peinlichkeit.
»Das Reich Gottes ist dein, wenn du es annimmst. Gib anderen die Frohe Botschaft weiter«, sagte er und setzte seinen Weg entlang der Stadtmauer fort, gefolgt von Maria, den Kindern und den Auserwählten.
Maria war erschöpft, doch sie beklagte sich nicht. Die Last des Ungeborenen machte sie schwerfällig, doch sie freute sich so auf das Kind, dass sie nicht klagen wollte. Sie waren im Hause von Isas Onkel Josef untergekommen, einem wohlhabenden, einflussreichen Mann, der Ländereien außerhalb der Stadt besaß. Der kleine Johannes und Tamar waren friedlich eingeschlummert. Auch für sie war es ein anstrengender Tag gewesen.
Nun, da Maria allein in Josefs kühlem, schattigem Garten saß, fand sie Zeit, über Isas Heilkünste nachzudenken. Isa, sein Onkel und einige der Jünger waren mit der Planung für den morgigen Besuch im Tempel beschäftigt, aber Maria wollte lieber die Kinder schlafen legen und sich ein paar Minuten der Ruhe und des Gebetes gönnen. Die Hohe Maria und die weiblichen Jünger hatten sich für eine Abendandacht versammelt, doch Maria hatte sich ihnen nicht angeschlossen. Zu selten und kostbar waren die Momente des Alleinseins geworden; deshalb zog sie sich zurück, wann immer es ihr möglich war.
Doch während sie über die Heilung des römischen Soldaten nachsann, wurde sie von Unruhe befallen. Sie konnte das Gefühl nicht näher bestimmen, und sie war sich nicht sicher, was sie bedrückte. Der Zenturio war, anders als die meisten Römer, ein anständiger, fast freundlicher Mann gewesen. Maria hatte wie Isa genau gespürt, wie verzweifelt der Mann gewesen sein musste, da ihm bei seiner wundersamen Heilung fast die Tränen gekommen waren. Der andere Soldat hingegen war ein harter, ungehobelter Mann, einer jener typischen Söldner, die so viel jüdisches Blut vergossen hatten. Dieser narbengesichtige Mann namens Longinus war von dem Wunder der Heilung erschreckt, jedoch nicht beeindruckt worden. Dafür war er zu hartgesotten.
Der blauäugige Mann aber war nicht nur geheilt worden, sondern hatte eine Wandlung durchgemacht. Maria hatte es in seinen Augen gesehen. Als sie an diesen Augenblick
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