Das Magdalena-Evangelium: Roman
ersten Sonnenstrahlen die schöne Gestalt umfingen. Da stand er, Isa, in ein makelloses weißes Gewand gehüllt und von allen seinen Wunden genesen. Und er lächelte – sein wunderbares warmes, zärtliches Lächeln.
Als sie auf ihn zuging, streckte er ihr seine Handflächen entgegen. »Halte mich nicht fest, Maria«, mahnte er sanft. »Meine Zeit auf Erden ist vorbei, obwohl ich noch nicht zum Vater hinaufgegangen bin. Ich musste zuerst dir dieses Zeichen geben.Geh aber zu meinen Brüdern, und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.«
Maria nickte. Voller Ehrfurcht stand sie vor ihm, und das reine und wärmende Licht seiner Güte hüllte sie ein.
»Meine Zeit hier ist beendet. Nun ist deine Zeit gekommen.«
Kapitel zwanzig
Château des Pommes Bleues
29. Juni 2005
Maureen saß mit Peter im Garten. Der Brunnen der Maria Magdalena sprudelte leise im Hintergrund. Es war notwendig gewesen, Peter an die frische Luft zu bringen, fort von den anderen. Das Gesicht ihres Cousins war blass und verhärmt vor Schlafmangel und dem Stress der letzten Woche. In diesen wenigen Tagen schien er um zehn Jahre gealtert zu sein. Maureen entdeckte sogar graue Stellen an seinen Schläfen, die vorher nicht da gewesen waren.
»Weißt du, was das Schlimmste von allem ist?« Peters Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Maureen schüttelte den Kopf. Marias Evangelium war für sie die Erfüllung eines Traumes. Aber sie war sich bewusst, dass vieles von Peters Selbstverständnis und Glauben von den Aussagen des Textes in Frage gestellt wurde. Auch wenn die heiligste Voraussetzung des Christentums, die Auferstehung, hier eine unverhoffte Bestätigung gefunden hatte.
»Nein, was denn?«
Peter schaute sie mit rot geäderten Augen an; er wollte ihr begreiflich machen, welcher Aufruhr in ihm tobte. »Was wäre … was wäre, wenn wir zweitausend Jahre lang den letzten Wunsch Jesu Christi ignoriert hätten? Was wäre, wenn uns das Johannesevangelium die ganze Zeit genau das mitteilen wollte – dass Maria seine auserwählte Nachfolgerin ist? Wäre es nicht eine tragische Ironie, wenn wir ihr in seinem Namen ihren Platz versagt hätten – nicht nur als Apostel, sondern sogar als Führerin der Apostel?«
Peter schwieg einen Moment und versuchte, der Herausforderung Herr zu werden, die sowohl seinen Geist als auch seine Seele einbezog. »› Halte mich nicht fest.‹ Das sagt er zu ihr. Kannst du dir vorstellen, wie wichtig das ist?«
Maureen schüttelte den Kopf, wartete auf seine Erklärung.
»Die Übersetzung in den Evangelien lautet anders; dort heißt es: ›Rühre mich nicht an.‹ Das griechische Wort im Original könnte man durchaus mit festhalten statt mit anrühren übersetzen, aber das hat man eben nicht getan. Siehst du den Unterschied?« Das gesamte Konzept war für Peter als Gelehrter und als Linguist eine Offenbarung. »Verstehst du, wie die Übersetzung eines einzigen Wortes alles verändern kann? In unserem Evangelium heißt es ganz eindeutig festhalten , und sie benutzt es zweimal, wenn sie Jesus zitiert.«
Maureen versuchte, Peters starke Reaktion auf ein einziges Wort nachzuvollziehen. »Ich denke, es besteht ein Unterschied zwischen ›Rühre mich nicht an‹ und ›Halte mich nicht fest‹.«
»Genau«, betonte Peter energisch. »Die Version ›Rühre mich nicht an‹ ist gegen Maria Magdalena benutzt worden; man wollte zeigen, dass Christus sie von sich stieß. Hier jedoch mahnt er, sie solle ihn nicht festhalten, weil er will, dass sie seine Nachfolge antritt.« Sein Seufzer zeugte von tiefer Erschöpfung. »Es ist gewaltig, Maureen. Gewaltig.«
Allmählich dämmerte Maureen, worauf Peter hinauswollte. »Ich glaube, einer der wichtigsten Teile ihrer Geschichte ist die Tatsache, dass die Frauen als Anführerinnen der Nazarener eine bedeutende Rolle einnehmen«, sagte sie nachdenklich. »Pete, ich weiß, es ist schon schlimm genug für dich – aber was ist mit ihrer Beschreibung der Muttergottes? Sie nennt sie die Hohe Maria und bezeichnet sie ganz offen als eine Lenkerin ihres Glaubens. ›Maria‹ ist also offensichtlich ein Titel für weibliche Führer gewesen. Und der rote Schleier …«
Peter schüttelte den Kopf, als könnte er ihn nur auf diese Weise klar bekommen. »Ich habe einmal die Erklärung gehört,der Vatikan habe festgelegt, dass die Muttergottes nur in Weiß und Blau dargestellt werden soll, um ihre Macht zu mindern, um ihre
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