Das Magdalena-Evangelium: Roman
voller Liebe auf ihren zweiten Ehemann, nämlich Jesus.«
Nun führte Roland die beiden Frauen zu einem gewaltigen Gemälde an einer anderen Wand. Hier saßen zwei ältliche Heilige in einer Felsenlandschaft und waren augenscheinlich in eine angeregte Diskussion, vielleicht sogar in einen Streit, verwickelt.
»Tamara kann Ihnen die Geschichte dieses Bildes erzählen«, sagte Roland und lächelte Tammy auffordernd an. Maureen richtete den Blick auf ihre Freundin.
»Der französische Künstler David Teniers der Jüngere hat esgemalt«, begann Tammy. »Es heißt Der heilige Antonius Eremita und der heilige Paulus in der Wüste . Es handelt sich nicht um den Paulus aus dem Neuen Testament, sondern um einen lokalen Heiligen, der zugleich Eremit war. Bérenger Saunière, der berüchtigte Pfarrer von Rennes-le-Château, hat dieses Bild für die Gesellschaft erworben. Ja, er war auch einer von uns.«
Maureen inspizierte das Gemälde und entdeckte Elemente, die ihr allmählich immer geläufiger wurden. Sie deutete darauf. »Ich sehe ein Kreuz und einen Totenschädel.«
»Genau«, stimmte Tammy zu. »Dies ist Antonius. Er trägt ein Symbol auf seinem Ärmel, das aussieht wie der Buchstabe T, aber in Wirklichkeit ist es die griechische Version des Kreuzes, das Tau . Der heilige Franz von Assisi hat es in unserer Bewegung populär gemacht. Antonius schaut von seinem Buch auf – das eine Darstellung des Buches der Liebe ist – und auf das Kreuz. Und sieh dir mal Paulus an: Er macht die ›Johannes‹-Geste und streitet mit seinem Freund, wer der erste Messias war, Johannes oder Jesus. Zu ihren Füßen liegen Bücher und Schriftrollen, um zu zeigen, dass noch viel mehr Material in ihre Diskussion mit einbezogen werden muss. Es ist ein sehr wichtiges Gemälde – tatsächlich sind diese beiden unbestritten die wichtigsten Gemälde unserer Tradition. Das Dorf da auf dem Hügel ist Rennes-le-Château, und weiter hinten in der Landschaft – wen haben wir da?«
Maureen lächelte. »Eine Schäferin und ihre Schafe.«
»Aber ja. Antonius und Paulus streiten sich, aber hinter ihnen steht die Schäferin als Mahnung, dass die Verheißene eines Tages das verschwundene Evangelium von Maria Magdalena finden und durch die Aufdeckung der Wahrheit alle Kontroversen beenden wird.«
Berenger Sinclair betrat leise den Raum, während Roland sagte: »Ich wollte Ihnen diese Dinge zeigen, Mademoiselle Paschal, damit Sie wissen, dass mein Volk keinen Groll gegen die Anhänger des Johannes hegt. Das war nie unsere Absicht.Wir alle sind Brüder und Schwestern, Kinder der Maria Magdalena, und wir wünschen uns, dass alle in Frieden miteinander leben.«
Nun schaltete sich Sinclair ein. »Leider sind manche dieser Anhänger Fanatiker, waren es immer schon. Sie sind in der Minderheit, aber gefährlich. Es ist wie überall auf der Welt, wenn in einer Bewegung die Gruppe Fanatiker die zahlenmäßig größere Gruppe der Gemäßigten überschattet. Die Bedrohung durch diese Männer ist und bleibt allerdings sehr real, wie Roland Ihnen versichern kann.«
Rolands ausdrucksvolles Gesicht wurde düster. »Das ist wahr. Ich habe immer versucht, nach den Überzeugungen meines Volkes zu leben. Zu leben, zu vergeben, Mitleid mit allen lebendigen Kreaturen zu empfinden. Auch mein Vater glaubte daran, und sie haben ihn getötet.«
Maureen spürte die tiefe Trauer, die den Okzitanier ob des Verlusts seines Vaters befallen hatte, doch sie spürte auch, wie sehr dieser Mord seine innerste Überzeugung erschüttert hatte. »Aber warum?«, wollte sie wissen. »Warum sollten die Ihren Vater umbringen?«
»Die Wurzeln meiner Familie in diesem Land reichen sehr, sehr weit in die Vergangenheit, Mademoiselle Paschal. Sie haben mich bislang nur unter dem Namen Roland gekannt. Aber mein Familienname lautet Gelis.«
»Gelis?« Maureen kam der Name bekannt vor. Rat suchend schaute sie Sinclair an. »Der Brief meines Vaters war an einen Monsieur Gelis gerichtet«, fiel es ihr wieder ein.
Roland nickte. »Ja, er wurde an meinen Großvater in seiner Eigenschaft als Großmeister der Gesellschaft geschrieben.«
Nun passte allmählich alles zusammen. Maureen blickte von Roland zu Sinclair. Der Schotte antwortete auf ihre unausgesprochene Frage. »Ja, meine Liebe, Roland Gelis, der hier vor Ihnen steht, ist unser Großmeister, obwohl er zu bescheiden ist, selbst darüber zu sprechen. Er ist der offizielle Führer unsererBewegung, wie schon sein Vater und sein Großvater vor
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