Das Magdalena-Evangelium: Roman
Ihnen sagen: In Frankreich sind mehr Kirchen Maria Magdalena geweiht als irgendeinem anderen Heiligen, einschließlich der Muttergottes. In Paris gibt es einen ganzen Distrikt,der ihren Namen trägt. Sie waren doch sicherlich schon im Madeleine, oder?«
Maureen war überrascht. »Das ist mir bis jetzt nicht aufgefallen, aber Madeleine ist Französisch für Magdalena, stimmt’s?«
»In der Tat. Waren Sie in ihrer Kirche im Madeleine? Es ist ein gewaltiger Bau, vorgeblich ihr gewidmet, und doch gab es ursprünglich im Innern nirgends auch nur eine Darstellung von ihr. Nicht eine. Seltsam, nicht wahr? Über dem Altar haben sie eine Skulptur von Marochetti hinzugefügt, die jedoch, wie ich mir habe sagen lassen, ursprünglich Mariä Himmelfahrt darstellte; nur haben sie sie zu Maria Magdalena umdeklariert aufgrund des Drucks von … nun, von jenen, denen die Wahrheit noch etwas bedeutet.«
»Ich schätze, jetzt werden Sie mir auch noch erzählen, dass Marcel Proust sein Gebäck nach ihr benannte«, witzelte Peter. Im Gegensatz zu Maureens unmittelbarer Faszination kratzte ihn Sinclairs lockere Selbstsicherheit.
»Nun ja, Madeleines sind nicht von ungefähr wie Kammmuscheln geformt«, tat Sinclair dies mit einem Achselzucken ab und ließ Peter über das Rätsel sinnieren, während er neben Maureen vor die Pieta trat.
»Es ist fast, als hätte man versucht, sie auszutilgen«, bemerkte Maureen.
»In der Tat, meine liebe Miss Paschal. Viele haben versucht, uns Magdalenas Vermächtnis vergessen zu lassen, doch ihre Gegenwart ist zu stark. Und wie Sie ohne Zweifel bemerkt haben, lässt sie sich nicht ignorieren, besonders nicht …«
Die Kirchenglocken schlugen Mittag und unterbrachen Sinclair. Statt weiterzureden, scheuchte er Peter und Maureen wieder durch die Kirche. Er deutete auf eine schmale Bronzelinie, die in den Kirchenboden eingelassen war und genau von Nord nach Süd durchs Querschiff lief. Die Linie endete an einem Marmorobelisk in ägyptischem Stil mit einer goldenen Kugel und einem Kreuz auf der Spitze.
»Kommen Sie. Rasch. Es ist jetzt Mittag, und Sie müssen das sehen. Das passiert nur einmal im Jahr.«
Maureen deutete auf die Bronzelinie. »Für was steht die?«
»Das ist der Meridian von Paris. Er teilt Frankreich auf höchst interessante Art. Aber schauen Sie. Dort oben.«
Sinclair deutete auf ein Fenster auf der anderen Seite der Kirche. Als sie sich umdrehten, fiel ein Sonnenstrahl hindurch und genau auf die Bronzelinie im Stein. Sie beobachteten, wie das Licht über den Fußboden strich und dabei der Linie folgte. Schließlich wanderte der Strahl den Obelisken hinauf bis zu der Kugel und ließ das Kreuz hell erstrahlen.
»Wunderschön, nicht wahr? Diese Kirche ist genau auf die Sommersonnenwende hin ausgerichtet.«
»Es ist wirklich wunderschön«, räumte Peter ein, »und ich hasse es, Ihre Seifenblase zum Platzen zu bringen, Lord Sinclair, aber dafür gibt es einen legitimen Grund. Ostern ist der Sonntag nach dem Vollmond im Anschluss an das Frühlingsäquinoktium. Es war nicht unüblich, Kirchen so zu bauen, dass man mit ihrer Hilfe Äquinoktium und Sonnenwende identifizieren konnte.«
Sinclair zuckte mit den Schultern und drehte sich zu Maureen um. »Da hat er recht, wissen Sie?«
»Aber hinter diesem Meridian von Paris steckt mehr, nicht wahr?«
»Manche nennen ihn die Magdalena-Linie. Wenn Sie herausfinden wollen, warum, besuchen Sie mich in zwei Tagen bei mir daheim im Languedoc; dann werde ich Ihnen den Grund dafür zeigen und noch viel mehr. Oh … Fast hätte ich es vergessen.«
Sinclair holte einen seiner luxuriösen Pergamentumschläge aus der Innentasche.
»Wenn ich richtig verstanden habe, sind Sie mit Tamara Wisdom, dieser reizenden Filmemacherin, bekannt. Sie wird Ende der Woche auf unserem Kostümball sein. Ich hoffe, Siebeide werden sich zu ihr gesellen. Und ich bestehe darauf, dass Sie als meine Gäste im Château wohnen.«
Maureen schaute zu Peter, um herauszufinden, wie er darüber dachte. Damit hatten sie nicht gerechnet.
»Lord Sinclair«, begann Peter. »Maureen ist weit gereist, um zu diesem Treffen zu kommen. In Ihrem Brief haben Sie ihr ein paar Antworten versprochen, und …«
Sinclair fiel ihm ins Wort. »Father Healy, seit zweitausend Jahren versuchen die Menschen, dieses Mysterium zu verstehen. Sie können nicht erwarten, alles an einem Tag zu erfahren. Wahres Wissen muss man sich verdienen, oder? Nun denn … Ich bin spät dran für eine Verabredung.
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