Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
den Sternen vorgezeichnet ist. Vielleicht werde ich dann endlich und für alle Zeiten schlafen können.«
»Sprich nicht so, René«, schalt der ältere Cosimo. »Du, ein junger Mann. Dich erwartet noch Großes im Leben.«
König René d’Anjou war auf Bitte Fra Francescos, Meister des Ordens vom Heiligen Grab, nach Florenz gekommen, um seinen Titel als herrschender Dichterfürst abzutreten, damit dieser auf das Kind übergehen sollte, dessen Geburt geweissagt war. Das Datum seines Besuchs war von den Astrologen des Ordens sorgfältig berechnet worden. Diese waren die »Magi«, benannt nach den drei Sterndeutern und Weisen aus dem Morgenland, welche die Geburt Jesu prophezeit hatten. Tatsächlich reichte das Vermächtnis der Magi über fünfzehn Jahrhunderte zurück, bis zum Erscheinen des Sterns von Bethlehem. Die heutigen Magi kannten sich in den Traditionen der Antike bestens aus, waren mit den Lehren Zarathustras und der Kabbala vertraut und überdies Experten im sybillinischen Orakel. Sie waren Meister der ägyptischen Mystik, der chaldäischen Numerologie und wussten vor allem die Sterne zu deuten, um das Schicksal der Menschheit vorherzusagen. Die Magi wussten, dass die Astrologie ein Geschenk Gottes war, ein mächtiges Zepter, das jene schwingen konnten, die erleuchtet waren. Die Astrologie war das beste Werkzeug Gottes, um den Willen des Allerhöchsten zu erfüllen.
Die derzeitigen Magi hielten unablässig Ausschau nach den besonderen Kindern, die in dieser Generation zur Welt kommen sollten. »Die Zeit kehrt wieder« war das uralte Motto des Ordens, das sie treu befolgten, und die Sterne zeigten, dass die kommenden Jahrzehnte von genialen Männern und Frauen geprägt sein würden. In der Geschichte gab es solche Kreisläufe des Erhabenen: von Gott durch die Sterne vorherbestimmte Zeitalter, in denen himmlische, reife Seelen hervortraten, um das Los derMenschheit zu verbessern. Die Magi waren ebenso wenig wie die Ältesten des Ordens bereit, dies alles dem Zufall zu überlassen. Mittels sorgfältiger astrologischer Berechnungen konnten sie gewährleisten, dass bestimmte Kinder zur rechten Zeit empfangen wurden, auf jene makellose Weise, die ihnen für die Geburt und ihr ganzes weiteres Leben den göttlichen Segen verlieh. Unter sorgfältiger Führung würde diese neue Generation ein Goldenes Zeitalter erschaffen, in dem die Weisheit der Antike auf das Denken des Fortschritts treffen sollte, damit die Menschheit in ein neues Zeitalter des Friedens und Wohlstands einträte. Dies würde die göttliche Vision von Einheit sein: eine Zeit, in der alle Männer und Frauen verstehen sollten, was es bedeutete, Anthropos zu sein – sich selbst erkennende, vollkommen erfüllte Menschen –, so wie es in der heiligsten Schrift des Ordens, dem Libro Rosso, beschrieben wurde.
Das Libro Rosso, das Rote Buch, war eine geschützte Schrift, die im Orden durch die Jahrhunderte weitergegeben worden war. Darin gab es eine Abschrift des verlorenen Evangeliums, das Jesus mit eigener Hand geschrieben hatte, das Buch der Liebe. Der Überlieferung des Ordens zufolge hatte Jesus diese unschätzbar kostbare Schrift Maria Magdalena hinterlassen, damit sie nach seinem Tode mit seinen Worten lehren konnte. Zwar war das Original im wechselvollen Lauf der Geschichte verloren gegangen, doch der Apostel Philippus hatte eine vollendete Abschrift angefertigt. Sie bildete nun einen Teil des Libro Rosso, das in vergoldetes Leder gebunden war.
Überdies war in dem heiligen Buch eine Geschichte des Ordens mit den Lebensläufen seiner Heiligen verzeichnet, die von der katholischen Kirche meist nicht anerkannt wurden. Und schließlich enthielt das Libro Rosso eine Reihe von Prophezeiungen, darunter die des Dichterfürsten. Das Buch war seit Jahrhunderten im Besitz der französischen Könige und wurde gegenwärtig vom guten König René gehütet, dem derzeitigen Erben der Prophezeiung.
Nun fuhr sich der gute König René mit den Händen durchs Haar, während er sich in einem von Cosimos weichen, samtbezogenen Sesseln zurücklehnte. Nach einem tiefen Seufzer begann er wieder zu sprechen. »Ach, dieses Kind, dieses Kind … du musst wissen, dass es ein Segen ist, Cosimo, aber zugleich auch ein Fluch. Es ist nicht leicht, mit einer solchen Prophezeiung zu leben. Und doch müssen wir, die wir damit leben, stets daran denken, dass wir von Gott erwählt wurden. Es ist eine Verantwortung, die wir niemals vergessen dürfen.«
Die Omen zeigten, dass
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