Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Holzsplitterchen geklebt worden. Unter der Reliquie befand sich ein ebenfalls winziger Papierfetzen, auf den in Miniaturbuchstaben geschrieben stand:
V. CROISE
Wenngleich im altertümlichen Französisch der Troubadoure, war es eine Abkürzung, die der gebildete Cosimo verstand: Vraie Croise. Er schaute zu seinem Freund auf. »Dies ist ein Splitter vom Wahren Kreuz. Der heiligsten Reliquie des Ordens.«
»So ist es. Und es wird deinen Enkel beschützen in einerWelt, die uns feindselig gesonnen ist, weil wir sie zu ändern versuchen.«
Dankbar nahm Cosimo das Amulett an sich, obwohl Renés abschließende Worte ihm zu sehr nach einer ganz eigenen Prophezeiung klangen.
»Es wird sein Leben schützen, sosehr andere danach trachten mögen, es ihm zu nehmen.«
In einigen Stunden erst würden die anderen eintreffen, dann konnte die offizielle Versammlung des Ordens beginnen. Cosimo, der bereits mit einer leichten Verstimmung Renés gerechnet hatte, hatte für seinen Freund eine Ablenkung ersonnen, die dieser schätzen würde. In der goldenen Hitze des toskanischen Nachmittags schritt er mit René durch den Garten seiner Villa zum Apfelkeller, der sich unter den Pferdeställen befand. René war verwundert, dass er einen Obstkeller besichtigen sollte, folgte dem Freund aber neugierig. Zweifellos hortete Cosimo de’ Medici in diesem Apfelkeller etwas ganz Besonderes und gewiss keine Äpfel.
»Kunst wird die Welt erlösen«, sagte Cosimo lächelnd, und René wiederholte es. Der Überlieferung des Ordens zufolge stammte dieser Satz von dem Heiligen Nikodemus, der als Erster ein christliches Kunstwerk geschaffen hatte. Seine atemberaubend schöne Skulptur des gekreuzigten Christus war in der Toskana Stoff für Legenden und wurde in der alten Stadt Lucca aufbewahrt. Sowohl Nikodemus als auch sein Förderer Joseph von Arimathia waren bei der Kreuzigung dabei gewesen und hatten geholfen, Jesu Leichnam vom Kreuz abzunehmen. Nachdem er Zeuge der Ereignisse am Karfreitag geworden war, schnitzte Nikodemus das erste Kruzifix: eine lebensgroße Darstellung des eindringlichen Bildes, das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Das geschnitzte Antlitz Jesu galt als so heilig, dass Nikodemus’ Kunstwerk fortan nur noch Volto Santo hieß, das Heilige Gesicht.
Am Tag des ersten Osterfestes gründeten Joseph von Arimathia, Nikodemus und ein weiterer begnadeter Künstler, der als der heilige Lukas in die Geschichte eingehen sollte, den Orden vom Heiligen Grab. Sie gaben einander das Versprechen, im Orden die Lehre des Rechten Weges zu bewahren, wie Jesus es im Buch der Liebe gelehrt hatte. Als Jesus an jenem Sonntag Maria Magdalena seine Auferstehung ankündigte, stand für die drei Männer außer Zweifel, dass Magdalena die erwählte Nachfolgerin des Messias war. Die Lehren des Buches würden unter ihrem Schutz erhalten bleiben. Der neu gegründete Orden verpflichtete sich, Jesu Ehefrau, ihre Kinder und ihre Nachkommen durch die Zeitläufe zu beschützen, vor allem aber die wahre Lehre, den Weg der Liebe, den Jesus seinen Nachfolgern so detailliert dargelegt hatte. Und oft war es nötig, dies mittels geheimer Symbolik und Verschlüsselung in Kunst und Literatur zu tun.
Deshalb war René – wie Cosimo und die anderen Edlen des Ordens – ein eifriger Förderer der Künste. Er freute sich schon auf eine Zeit, in der er mehr Zeit für Kunst, Musik und Architektur haben würde, weil er seinen politischen Pflichten nicht mehr nachkommen musste. Da die Mitglieder des Ordens die Kunst als Sprache benutzten, um die Wahrheit weiterzugeben, suchten Cosimo und René stets nach neuen Wegen, um die Schönheit der geheimen Lehre in der Kunst ausgedrückt zu sehen.
Als die Männer sich dem Apfelkeller näherten, blieb René verwundert stehen: Hinter der Tür drangen melodische Laute hervor. Belustigt schaute er Cosimo an. »Wer singt denn da? Habt ihr in der wilden Toskana Zauberäpfel, denen die Gabe des Gesangs geschenkt wurde?«
Cosimo lachte. »Nein, ich habe hier missratene Künstler, die mit ihren Aufträgen im Rückstand sind, obwohl ihnen die Gabe der Pinselführung in die Wiege gelegt wurde.«
René war entsetzt. Cosimo war als großzügiger Mäzen bekannt, der seine Künstler generös unterstützte, sogar ihre Familien durchfütterte, während er gleichzeitig andere Förderer ermahnte,freigebiger zu sein. »Ausgerechnet du hältst in deinem Keller Künstler gefangen?«
»Normalerweise nicht. Aber für Lippi muss man eine Ausnahme
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