Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
wohlauf und wird gewiss bald eintreffen. Es ist erstaunlich, wie wenig er sich verändert hat in all den Jahren, seit ich ein Knabe war.«
Cosimo lächelte wissend, bevor er antwortete; dieses schiefe Lächeln verwandelte sein ernstes Gesicht in eine heitere Landschaft, in der Intelligenz und Verständnis blühten. Erinnerungen an den Meister und die Zeit mit ihm brachten Cosimo stets zum Lächeln. Erst dieser alte Mann mit Namen Fra Francesco hatte Cosimo und René erkennen lassen, dass sie Cousins waren, Verwandte eines uralten Bundes in Geist und Blut. Fra Francescowar der sanfte und doch gefürchtete Meister einer Geheimgesellschaft, der René und Cosimo Treue bis in den Tod geschworen hatten: dem Orden vom Heiligen Grab. Der Orden hatte seinen geheimen Sitz nur einen Tagesritt von Florenz entfernt in der winzigen, ummauerten Stadt, die seinen Namen trug und die nun in den Besitz der Medici übergegangen war: Santo Sepolcro.
»Ich nehme an, dass er sich nie ändern wird, das weißt du ja«, erwiderte Cosimo. »Aber ich bin dankbar, dass du es möglich machen konntest, zum festgelegten Datum zu kommen. Wir haben vieles zu besprechen und vorzubereiten.«
»Wie hätte ich deine Einladung ablehnen können? Dieses Datum steht doch in den Sternen, und wir müssen alles dafür tun, es angemessen zu würdigen. Im Orden sind alle sehr aufgeregt, und ich werde meine Pflicht tun, wie es vorgeschrieben ist. Wann soll dieses Kind denn zur Welt kommen?«
»Wir haben nach Fra Francescos Ratschlag alle Prophezeiungen der Magi zusammengetragen. Sie sind sich einig, dass die Sterne auf 1449 hinweisen, weil Mars in jenem Jahr in die Fische eintreten wird. Wenn die Berechnungen stimmen, wird er am ersten Januar geboren und kann fünf Tage später am Dreikönigsfest getauft werden. Wir müssen also sehr genau planen. Aber wie du weißt, ist so etwas schon einmal mit Erfolg getan worden. Und dieses Mal muss der Erfolg exakt vorausgeplant sein, denn nur die Geburt zum richtigen Zeitpunkt wird ihm den Einfluss der Sterne sichern, die die Prophezeiung vollends erfüllen. Deshalb müssen wir jetzt schon mit den Vorbereitungen beginnen, damit sie von Erfolg gekrönt sind. Es kann mehrere Jahre dauern, die passende Frau zu finden, die seine Mutter sein wird.«
Keiner kannte die Macht der alten Prophezeiung besser als René d’Anjou, denn er war der derzeitige Dichterfürst, das Goldene Kind, das seiner Geburt und seiner Bestimmung wegen vom Orden anerkannt worden war. Durch Herkunft und Geburtsdatum war Renés Weg vorherbestimmt gewesen, und er hatte sein Bestes getan, um die Prophezeiung zu erfüllen. CosimosAnspielung auf »den exakten Erfolg« ließ René zusammenzucken. Es war eine Anspielung auf seine Geburt, die nicht zum genau richtigen Zeitpunkt erfolgt war: Er hatte zwei Wochen zu spät das Licht der Welt erblickt. Zwar war die Sternenkonstellation zu dem Zeitpunkt noch im Einklang mit der Prophezeiung gewesen, doch René hatte von Kind an gewusst, dass er eine Enttäuschung war. Er war zwar ein Dichterfürst, aber nicht der Dichterfürst. Das Unglück seiner verspäteten Geburt verfolgte ihn jedes Mal, wenn ihm ein Irrtum unterlief oder wenn er den Erwartungen des Ordens nicht ganz entsprach.
René schloss die Augen und zitierte die Prophezeiung des Dichterfürsten, die für so viel Licht und Schatten in seinem Leben verantwortlich war:
»Der Menschensohn soll wählen, wann die Zeit
für den Dichterfürsten gekommen ist.
Er, der ein Geist von Erde und Wasser ist,
geboren im verzweigten Reich der See-Ziege
und in der Blutlinie der Gesegneten.
Er, der das Feuer des Mars dämmen wird,
und das der Venus höher lodern lässt,
um die Anmut über die Gewalt zu stellen,
wird Herz und Geist der Menschen beflügeln
und so den Weg des Dienens erhellen.
Den rechten Weg wird er ihnen weisen,
denn dies ist sein Vermächtnis,
und dass er um eine große Liebe weiß.«
Der gute König René blickte mit Tränen in den Augen zu seinem alten Freund auf. »Wie du weißt, bin ich nicht der vollkommenste Dichter gewesen. Zwar habe ich einen große Liebe kennengelernt und eine Tochter gezeugt, die zur Sommersonnenwende geboren wurde und eine eigene Prophezeiung erfüllt, und ich habe stets versucht, alle Aufgaben zum Wohl des Ordenszu erfüllen. Aber es schmerzt mich nicht, den Titel abzutreten. Ich werde besser schlafen, sobald dieser Knabe geboren ist – hoffentlich zur rechten Zeit, um den Plan Gottes zu erfüllen, der in
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