Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
für ein Laut?
Sanft zügelte er Morello und lauschte. Wieder hörte er das Geräusch, das in dieser Umgebung ungewöhnlich war. Lorenzo erstarrte im Sattel, alle Sinne angespannt. Zwar befand er sich auf dem Grund und Boden der Medici und fühlte sich sicher, doch eine so reiche und mächtige Familie hatte Feinde. Man konnte nie vorsichtig genug sein. Wieder hörte Lorenzo das Geräusch, das unverkennbar von einem Menschen stammte. Es war ein leiser, trauriger Laut, von dem keine Gefahr auszugehen schien. Langsamlenkte er Morello auf die Quelle des Geräusches zu … und zügelte das Pferd abrupt, als jemand erschrocken nach Luft schnappte.
In einem Blätterhaufen saß das schönste Geschöpf, das Lorenzo je gesehen hatte.
Es mochte ungefähr in seinem Alter sein, vielleicht ein bisschen jünger: ein Mädchen, das wie eine der Nymphen aussah, die Sandro Botticelli für ihn gezeichnet hatte, als sie über griechische Sagen gesprochen hatten, die sie beide so liebten. Das Mädchen hatte ein herzförmiges, zartes Gesicht; sein Mund war ein vollkommener Amorbogen; üppige, kastanienfarbene Locken mit kupferfarbenen Strähnen umrahmten sein liebliches Antlitz. Blätter hafteten in seinem Haar, und seine Kleidung war schmutzig und in Unordnung geraten, sah aber neu und teuer aus. Tränen standen in den hellbraunen Augen. Lorenzo sollte später noch oft beobachten, wie diese Augen je nach Stimmung ihre Farbe ändern konnten, von Bernsteingelb bis zu Graugrün. Doch im Moment war dieses Mädchen für ihn ein einziges Rätsel.
»Warum weinst du?«, fragte er.
Es zeigte ihm etwas, das es in der Hand hielt – etwas Flatterndes, Gurrendes mit weißen Federn.
»Du hast eine Taube gefangen?«
»Ich habe sie nicht gefangen!«, herrschte es ihn zornig an. »Ich habe sie gerettet. Sie steckte in einer Falle auf dem Baum dort. Aber sie ist verletzt. Ich glaube, ihr Flügel ist gebrochen.«
Lorenzo maß die zierliche, temperamentvolle Waldnymphe mit Blicken: wie sie dastand, die Taube an sich gedrückt, wobei sie deren Verletzungen begutachtete. Dass Wilddiebe auf dem Besitz der Medici Fallen aufstellten, würde er später dem Vater mitteilen müssen. Doch nun gab es Wichtigeres zu tun. Behände sprang Lorenzo vom Pferd, trat auf das Mädchen zu und streichelte behutsam den Kopf der Taube.
»Nur ruhig. Alles wird gut.«
Erstaunt sah das Mädchen, wie der Vogel sich beruhigte und Lorenzo erlaubte, ihn zu streicheln.
»Lorenzo de’ Medici«, sagte die Nymphe mit einem Anflug von Ehrfurcht in ihrer melodischen Stimme.
Sein Name aus ihrem Mund war der schönste Laut, den Lorenzo je gehört hatte. »Ja«, sagte er, plötzlich gegen seine Gewohnheit schüchtern. »Aber du bist im Vorteil, weil du mich offensichtlich kennst. Ich kenne dich aber nicht.«
»In Florenz kennt dich doch jeder. Ich habe dich auf der Prozession der Magi gesehen. Da hast du das Pferd da geritten.« Sie überlegte einen Moment; dann fragte sie besorgt: »Lässt du mich jetzt verhaften, weil ich unbefugt euer Land betreten habe?«
Lorenzo musste an sich halten, um nicht laut herauszuplatzen. Stattdessen fragte er ernst: »Wieso? Hält man mich in Florenz für einen Tyrannen?«
»Oh nein! So hab ich es nicht gemeint. Nur dass … ach, es tut mir leid. Mein Vater hat mir befohlen, auf unserem Grund und Boden zu bleiben, aber euer Wald ist so viel schöner, dass ich manchmal darin spazieren gehe, wenn mich niemand sieht.«
»Wer bist du denn?«
»Lucrezia Donati.« Sie machte einen Knicks.
»Eine Donati.« Lorenzo hatte schon an ihrer kostbaren Kleidung erkannt, dass sie aus einer reichen Familie kam. Das Land der Donati grenzte an das der Medici; es umfasste sogar noch mehr Hektar urbaren Bodens. Die Donati waren toskanischer Adel mit einem Stammbaum, der bis in das antike Rom zurückreichte. Außerdem hatte der berühmte toskanische Dichter Dante eine Donati geheiratet und der Familie zusätzliches Ansehen verschafft.
»Eure Hoheit …« Lorenzo verbeugte sich lächelnd. »Da Euer Familienname in diesem Teil Italiens der edelste ist, dürfte es einem gemeinen Medici nicht zukommen, Euch zu verhaften, und wenn es ihn noch so sehr in den Fingern juckt. Stattdessen wird Eure Strafe darin bestehen, ihm diese Taube zu übergeben.«
»Aber … was willst du mit ihr? Doch wohl nicht essen?«
»Natürlich nicht! Mein Gott, was denkst du von mir. Ich werde sie zu Maestro Ficino bringen. Er ist einer meiner Lehrer.Zugleich ist er Arzt und ein Meister
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