Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
sein konnte. Doch obwohl Lucrezia in der mächtigsten Florentiner Familie die Entscheidungsgewalt besaß, war sie zugleich eine zärtliche Mutter, der daran gelegen war, dass ihre Kinder in einer rauen Welt ihr Glück fanden. Deshalb würde sie Giuliano nie zu einer kirchlichen Laufbahn drängen, sondern ihm die Entscheidung über seine Zukunft selbst überlassen – das Privileg des Zweitgeborenen, der die Last der Prophezeiung nicht tragen musste. Giuliano würde sein Schicksal in viel höherem Maße selbst bestimmen dürfen als sein älterer Bruder. Dennoch sah Lucrezia ihren älteren Sohn mit anderen Augen als Piero, und manchmal überkam sie Furcht, denn sie wusste um das empfindsame Herz des pflichtbewussten jungen Mannes und um die sensible Dichterseele, die in Lorenzos Innerem wohnte. Gott mochte für Lorenzo einen Plan haben, Lucrezia aber fürchtete um sein Glück. Würde er in der Lage sein, die Rolle des Medici-Herrschers, des Bankiers, Politikers und Staatsmannes zu erfüllen – und dabei seinen Frieden und sein Glück finden?
Über allem jedoch stand jene Aufgabe, über die nur die engsten Vertrauten ihres Zirkels sprachen: die heilige Prophezeiung, die Lorenzo nach Gottes Willen erfüllen musste. Dass er der Dichterfürst war, stand außer Zweifel; Lucrezia wusste esseit dem Tag seiner Empfängnis und seiner Geburt im Januar, unter dem Zeichen der See-Ziege und dem Mars im Sternbild der Fische, wie die Magi geweissagt hatten. Und Lorenzos Unterweisung durch den Orden würde bald abgeschlossen sein.
Obwohl er noch so jung war, senkte sich bereits das Gewicht seines Schicksals auf seine Schultern. Cosimo war dem Tod nahe, und Piero, sein Sohn, war ebenfalls krank und machte seinem boshaften Florentiner Spitznamen, »Piero der Gichtige«, alle Ehre.
Seufzend schob Lucrezia ihren jüngeren Sohn aus dem Zimmer. Giuliano würde nie wissen, welches Glück er hatte, sämtliche Vorteile seiner hohen Geburt in Anspruch nehmen zu können, ohne dafür Verantwortung auf sich nehmen zu müssen.
Mein armer Lorenzo, dachte Lucrezia und schaute zum Fenster, durch das sie ihren Erstgeborenen zuletzt gesehen hatte. Genieße deine Freiheit, solange du sie noch hast, bevor die Wirklichkeit dessen, was du bist und was du erreichen musst, dich einholt.
Sie nahm Giulianos Hand. »Komm, mein Kleiner. Wir müssen jetzt für Sandro Modell sitzen, damit er das Bild fertig malen kann. Und dass du mir ja still sitzt!«
Lorenzo de’ Medici drückte die Fersen in die Flanken des Pferdes, das den Namen Morello trug, und spornte es zum Galopp an. Nie peitschte er seine Pferde; er verehrte sie viel zu sehr. Manche behaupteten sogar, er könne mit ihnen reden. Marsilio Ficino zum Beispiel, Cosimos Leibarzt und Astrologe, schrieb diese Gabe Lorenzos Geburtshoroskop zu. Der Junge war unter einem Erdzeichen geboren und wurde beherrscht von der mythischen See-Ziege. Ficino sagte, dieses Zeichen in Verbindung mit anderen günstigen Elementen in Lorenzos Horoskop verleihe ihm ein außergewöhnliches Verständnis für Tiere. Überdies, fügte Ficinohinzu, würden Tiere in seinem Schicksal noch eine unerwartete Rolle spielen.
Mit Pferden konnte Lorenzo besonders gut umgehen, und die Tiere schienen seine Liebe zu erwidern. Schon wenn er sich den Ställen näherte, wieherten sie. Und sein Lieblingspferd, der feurige Morello, wollte aus keines anderen Hand Hafer annehmen, sobald er die Anwesenheit seines Herrn auf dem Landsitz von Careggi spürte.
Lorenzo lenkte Morello in den Wald und folgte einem Weg, den er gut kannte. Er durfte nicht zu lange fortbleiben, weil er seinem kleinen Bruder am Nachmittag einen Ritt versprochen hatte; es würde Giuliano das Herz brechen, wenn er sein Versprechen nicht hielt. Giuliano sah zu ihm auf, und Lorenzo würde ihn niemals enttäuschen. Doch im Augenblick brauchte er ein wenig Zeit für sich allein, die Sonne im Gesicht und die Geräusche des Frühlings, der den Wald zum Leben erweckte. In seiner Kammer verfasste Lorenzo insgeheim ein Sonett zum Lob des Frühlings, und er wollte noch ein bisschen von dessen Luft schnuppern, bevor er es fertigstellte. Der Frühling war die Zeit des Neuanfangs, eine Zeit der Verheißung. Die Florentiner feierten zum Frühlingsbeginn den Anfang eines neuen Jahres; ihr Jahreslauf begann am fünfundzwanzigsten März, dem Fest von Mariä Verkündigung. Bis dahin waren es noch drei Tage. Lorenzo wollte sein Sonett rechtzeitig fertig haben, denn …
Er stockte.
Was war das
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