Das magische Buch
erwiderte Hanna. ›Wir wissen eure Gastfreundschaft zu würdigen.‹
Nach dem Essen lasen einige Schreiber Gedichte und andere Texte vor.
›Heute ist eine besondere Nacht‹, sagte einer von ihnen. ›Normalerweise kennt niemand unsere Texte, bevor sie vervielfältigt und verbreitet werden.‹
›Dann bedanken wir uns doppelt für die Ehre, die ihr uns zuteilwerden lasst‹, antwortete Hanna.
›Ihr werdet jetzt das große Glück haben, etwas ganz Außergewöhnliches zu hören. Nevalia, eine junge Schreiberin, hat soeben ein Buch beendet, und wir haben ihr erlaubt, es vorzulesen.‹
Der Älteste hob die Hand, und ein wunderschönes Mädchen, das unsere Freunde bisher nicht bemerkt hatten, stand auf und ging zu dem großen Pult in der Mitte. Sie schlug ein in Schafsleder gebundenes Buch auf und begann zu lesen.
Als Nasshan ihre Worte vernahm, spürte er, wie das Blut schneller durch seine Adern strömte. Seine Augen waren auf das Mädchen gerichtet, und er hörte gebannt zu. Hanna, die neben ihm saß, bemerkte die Erregung des einsamen Jägers, und ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen. Doch sie sagte nichts.
Die Stimme der jungen Schreiberin klang in Nasshans Ohren wie Himmelsmusik. Hin und wieder nahm er einen kleinen Schluck von einem Getränk, einem Gemisch aus Bier und Honig, das die Sinne verwirrte. Währenddessen drangen Nevalias Worte wie Nektar in das Herz des Jägers.
Die Lesung dauerte bis tief in die Nacht. Als Nevalia geendet hatte, trat Nasshan auf sie zu.
›Noch nie habe ich eine Stimme wie die deine gehört‹, gestand er. ›Nicht einmal der Gesang der Vögel ist so schön. Ich bin tief beeindruckt.‹
›Im Allgemeinen empfangen wir keine Besuche von Fremden‹, erwiderte Nevalia. ›Aber dein Interesse ist mir gleich aufgefallen.‹
›Ich bin ein ungebildeter Jäger, der daran gewöhnt ist, alleine im Wald zu leben. Entschuldige bitte meine einfache Sprache.‹
›Ich fühle mich von deinen Worten sehr geschmeichelt.‹
So sprachen sie noch eine Weile weiter, bis die bewaffneten Wächter das Fest für beendet erklärten. Hanna jedoch lag die ganze Nacht wach und dachte an die Antwort, die die Schreiber ihnen am nächsten Morgen geben würden. Sie wusste, dass es ihnen ohne ihre Hilfe niemals gelingen würde, Scroom aufzuhalten. «
»So ein Schwachsinn!«, ruft Sansón. »Was für eine saublöde Liebesgeschichte!«
»Ich hab’s dir ja gesagt, es interessiert dich nicht … Also, wir gehen dann. Adiós!«
»Moment! Hat dein Vater das Zeug geschrieben?«, fragt Lorenzo.
»Ja, für sein neues Buch«, antworte ich.
»Gib mir die Zettel!«, befiehlt er. »Ich will sie haben.«
Ich weiche einen Schritt zurück. Ich werde ihm die Seiten auf keinen Fall geben! Egal, was passiert.
»Nein«, antworte ich mit fester Stimme. »Ich werde sie dir nicht geben!«
»Natürlich wirst du sie ihm geben«, befiehlt Sansón und packt mich am Arm.
»Hör mir mal gut zu, du Rambo!«, schreit Lucía ihn an. »Diese Seiten hat ein richtiger Profi geschrieben! So was klaut man nicht!«
Sansón und seine Freunde brechen in schallendes Gelächter aus.
»Natürlich klaut man das!«, ruft er. »Ich mach, was ich will!«
Er reißt mir die Blätter aus der Hand, und die ganze Clique fängt an, sie in kleine Stücke zu reißen. Wie große, flache Schneeflocken schweben die Schnipsel zu Boden. Ich bin so wütend, dass ich auf die Übeltäter losgegangen wäre, wenn mich nicht eine Stimme davon abgehalten hätte.
»Was ist hier los?«, fragt unsere Lehrerin und kommt näher.
Betretenes Schweigen. Niemand antwortet.
»Na, dann können wir ja in die Klasse gehen«, sagt sie.
Ich fange an, die Papierschnipsel vom Boden aufzusammeln. Lucía und Señorita Clara helfen mir dabei, während die anderen sich verdrücken. Mir wird klar, dass Lorenzo sauer auf mich ist. Jetzt habe ich also zwei Feinde. Ich muss mich vorsehen.
»Wie geht es deinem Vater?«, fragt mich unsere Lehrerin.
»Anscheinend besser«, antworte ich. »Ich hoffe, er wird bald entlassen.«
»Mal sehen, wenn ich Zeit habe, besuche ich ihn vielleicht«, sagt sie.
»Darüber würde er sich bestimmt freuen. Vielen Dank, Señorita Clara!«
»Los, jetzt aber ab in die Klasse«, fordert sie uns auf.
Wir folgen ihr in den Klassenraum, und der Unterricht beginnt. Pünktlich, wie jeden Tag.
»Du bist ja ein richtiger Held«, flüstert Lucía mir zu.
»Ja, aber jetzt müssen wir die Seiten neu ausdrucken. Wir müssen uns beeilen,
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