Das magische Land 1 - Der Orden der Rose
Becher und Schalen bereit. Die Becher für die niedrigsten Tische waren aus Silber, die für die Tische der Edlen aus Gold und die für den höchsten Tisch waren aus Kristall, das so fein war, dass es sang, wenn ein Luftzug es streifte.
Seit den frühen Morgenstunden hatte sie sich irgendwie seltsam gefühlt. Ihre Träume waren vage und formlos gewesen; sie konnte sich an keinerlei Einzelheiten erinnern, aber sie trübten ihre Stimmung.
Dabei war es ein wunderschöner Tag: klar und hell und warm, aber nicht heiß. Der Duft der Rosen in den Gärten des Schlosses war betörend. Der Saal war mit ihnen geschmückt worden, in Vasen und Schalen und als Girlanden als Zierde für den Ehrentisch.
Der starke Duft machte Averil ein wenig schwindelig. Der Himmel, so strahlend blau er auch war, schien sie niederzudrücken. Unter all dem Wirrwarr der Stimmen und den Klängen von Liedern und heiligen Gesängen vernahm sie die ganze Zeit das Zischen und Schlängeln dunklerer Mächte.
Emma saß beim Festmahl auf Averils Platz am Ehrentisch direkt neben dem Herzog. Sie trug einen Kranz aus weißen Rosen und war in weißen Samt gekleidet, eine schimmernde Vision unter den bleiverglasten hohen Fenstern. Averil stand hinter einer Säule und beobachtete das Geschehen. Sie hatte sich allen Aufgaben, die der Haushofmeister ihr übertragen mochte, entzogen. Sie war ein Schatten, eine stumme Präsenz am Rande der glitzernden Versammlung.
Sechs von zwölf Gängen waren serviert und abgeräumt worden. In einer vagen Anderswelt krampfte sich ihr Magen vor Hunger zusammen. Sie hatte seit dem vorhergehenden Abend keinen Bissen mehr gegessen.
Es spielte keine Rolle. Sie musste hier sein. Es gab zwar keinen vernünftigen Grund dafür, und mit Gewissheit blieb sie nicht aus Neid auf diese Frau, die ihr Gesicht trug und die Huldigungen empfing, die ihr galten. Aber es lauerte eine große Gefahr an diesem Ort. Selbst wenn Averil es zuvor nicht geahnt hätte, an diesem langen Abend war sie sich dessen ganz sicher. Der Herzog war glücklich. Er war gebrechlich und das Alter lastete schwer auf seinen Schultern, aber er lächelte und sonnte sich im Glanz seiner Tischdame. Obwohl er wusste, dass sie ein Tarnzauber und eine Täuschung war, genoss er die Freude darüber, dass seine Thronerbin da war, lebendig und in Sicherheit. Die Freier waren aufgestanden und begannen, vor der Comtesse zu tanzen. Es war ein kraftvoller Tanz mit viel Gestampfe und Gerufe. Das Glitzern ihrer juwelenbesetzten Embleme und der Glanz ihrer seidenen Cotten ließen Averils Blick verschwimmen.
Ihr Kopf schmerzte. Ihr war schwindelig und ein wenig übel. Das Zischen, das sie zuvor gehört hatte, war lauter geworden und übertönte sogar den Kriegsgesang der Freier. Sie schlugen eine imaginäre Schlacht für die Vision auf dem erhabenen Platz, um deren Gunst sie wetteiferten.
Plötzlich nahm Averil eine Art Blitz wahr. Im ersten Moment hielt sie es für den Widerschein eines Glases oder das Glitzern eines Schmuckstücks, aber es war zu unruhig und schnell. Und es flog. Es schwang sich aus den Schatten am Rand des Saales empor. Da war etwas, sie konnte es fast sehen — Es zielte auf die Thronerbin. Averils Körper wollte ihr nicht gehorchen. Sie konnte nur dastehen und auf den halb sichtbaren, halb wahrnehmbaren Pfeil starren, der auf sein Ziel zusteuerte.
Die Hochgestellten am Ehrentisch schienen nichts zu sehen oder zu bemerken. Sie lachten, scherzten und tranken aus ihren Kristallbechern.
Der Herzog erstarrte. Averils Blick war auf Emma gerichtet, aber die falsche Thronerbin wirkte unbesorgt. Der Pfeil, der auf sie zuzuschnellen schien, war seitlich von ihr eingeschlagen.
Der Herzog war sein Ziel. Averil hörte ein kaltes Lachen — oder glaubte, es zu hören.
Selbst seine Wachen bemerkten nichts. Sie standen wie bewaffnete Standbilder hinter der Thronerbin.
Mit all ihrer Willenskraft kämpfte Averil gegen den Bann an, durch den sie erstarrt war. Vorwärts kam sie nicht vom Fleck, aber dann stellte sie fest, dass sie sich seitlich fortbewegen konnten. So glitt sie an der Wand entlang, als sei sie eingeklemmt zwischen einer Mauer aus Stein und einer aus Luft. Der Herzog saß reglos da. Der Tanz der Freier hatte sich zu einem Crescendo gesteigert und endete mit Stampfen und Schreien. Emma lachte und klatschte in die Hände.
Averil dachte, sie wäre gegen eine Säule gestoßen, aber als sie aufschaute, stellte sie fest, dass es Bernardin war. Er schien genauso verzaubert
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