Das magische Land 1 - Der Orden der Rose
nach Luft. Gereints Kraft hielt sie in dem Machwerk fest, sonst wäre sie herausgefallen. Der König von Lys war unverwechselbar: Niemand außer ihm pflegte dieser Tage die alte Tradition der langhaarigen Könige.
»Jetzt«, sagte Gereint.
Sie brachten ihre Hände zusammen. Der Zauber verpuffte zu Staub. Gereint schleuderte den Schleier über den Spiegel, und Averil stürzte auf ihren Vater zu.
Der Herzog lag friedlich da und schlief. Sein Traum streifte Averils Bewusstsein, es war ein Traum von Heilung und Frieden.
Ihre Knie gaben nach, und erneut hielt Gereint sie fest. Für einen Augenblick ließ sie es zu, ruhte in seinen warmen, starken Armen, bevor sie zurückwich. Er versuchte nicht, sie weiter festzuhalten. Sein Kopf war aufgerichtet und ein wenig zur Seite geneigt, als würde er auf etwas lauschen.
Zuerst erkannte Averil das Geräusch nicht. Es war, als würde der Wind in den Dachbalken heulen, aber in dieser warmen Sommernacht gab es keinen Wind. Frauen wehklagten. Das Echo hallte durch die Gänge. Jemand in der Nähe war gestorben — auf schreckliche, schlimme Weise.
Averils Herz erstarrte. Ihr Vater bewegte sich; selbst in seinen tiefen Träumen musste er den Ausbruch von Trauer gehört haben.
Der Angriff hatte nicht ihm gegolten. Es war ein Ablenkungsmanöver. Während sie einen Mann verteidigte, der ihren Schutz kaum gebraucht hatte, war ihr Ebenbild — ihr falsches Ich — getötet worden.
Emma hatte keinen leichten Tod gefunden. Ihr Körper war verdreht, und ihr Gesicht so blau und geschwollen, dass es nicht mehr zu erkennen war. Nur ihr rotgoldenes Haar war dasselbe geblieben.
Jennet, die ruhige und praktische Jennet, schluchzte hemmungslos, weinte so sehr, bis sie nur noch keuchend nach Luft schnappen konnte. Averil schüttelte und ohrfeigte sie, bis sie aufhörte zu heulen und still wurde.
»Erzähl es mir«, befahl Averil in einem scharfen, kalten Tonfall. Das war nicht mitfühlend, aber durch Mitgefühl wäre die arme Frau nur noch hysterischer geworden. Jennets Augen waren voller Groll, aber gleichzeitig klarten sie auf. Der Zorn, mit dem sie ihre Worte hervorstieß, hatte eine reinigende, heilende Wirkung. »Es kam durch den Spiegel«, sagte sie. »Eine Schlange, grüner als Gras. Sie lag auf ihr, während sie schlief und biss sie in den Hals. Dann glitt sie zurück in den Spiegel.« .
»Und du? Was hast du getan, als deine Herrin mit dem Tode rang?« »Ich lag mit offenen Augen da, mit dem Gewicht der ganzen Welt auf meinem Körper und ohne Kraft, mich zu regen.«
Averils Atem zitterte, als sie Luft holte. »Ja. Ja, so war es.«
Jennet starrte sie an. Sie kam schneller wieder zur Besinnung, als Averil es vermocht hätte. »Der Herzog? Ist er … Ist er …«
»Er ist in Sicherheit«, sagte Averil. »Es war ein Ablenkungsmanöver. Wobei ich keinen Zweifel daran habe, dass auch er gestorben wäre, wenn wir es nicht abgewendet hätten. Aber er war nicht das Ziel. Nicht dieses Mal.« »Nein«, sagte Jennet tonlos. »Ihr wart es.«
Averil erschauerte. Eine große Übelkeit stieg in ihr hoch.
Sie durfte sich nicht davon überwältigen lassen. Die übrigen Zofen waren kreischend herausgelaufen und erfüllten den Palast mit ihrem Geschrei. Dies kam ihr in gewisser Weise gelegen. So konnte sie sich Jennet allein widmen, abgesehen von Gereint.
Er beobachtete die beiden schweigend. Er zeigte keinerlei Anzeichen von Überraschung, obwohl er alles gehört und verstanden haben musste. Ihr wurde klar, dass er Wache hielt: Er hatte den Spiegel verhängt und sich zwischen Averil und den Fenstern postiert. Dort, wo Magie hätte eindringen können, stand er ihr im Weg.
Sie hasste es, auf seine Anwesenheit zu verzichten, aber niemand anderer konnte diesen Auftrag erledigen. »Hol Bernardin«, sagte sie. »Bring ihn so schnell wie möglich her.«
»Er ist sicher schon unterwegs«, sagte Gereint. »Wenn ich wüsste —« »Hol ihn«, befahl sie.
»Ihr könntet freundlicher sein«, bemerkte Jennet, als er fort war. »Nicht heute Nacht«, erwiderte Averil.
Jennet zuckte mit den Schultern. Sie hatte zwar aufgehört zu schmollen, aber sie lächelte auch nicht. Es würde eine Weile dauern, bis irgendjemand wieder lächeln konnte.
Ihre Bereitschaft, ihrer Herrin zu vergeben, war schwach, aber mehr konnte Averil nicht erwarten.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Landvogt erschien. Lärm und Gekreische waren abgeebbt, aber das war nur die Ruhe vor dem Sturm. Mittlerweile war der ganze
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