Das magische Land 1 - Der Orden der Rose
Palast erwacht, und die Gerüchte verbreiteten sich in Windeseile.
Jennet schickte sich an, die Leiche, so gut es ging, herzurichten, aber Averil unterbrach sie sofort: »Noch nicht. Er muss es sehen.«
Die Zofe nickte unglücklich und wich zurück. Ihre Hände waren so fest ineinander verflochten, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Wenn du gehen willst, geh«, sagte Averil. »Ich schaffe das hier allein.« »Nein!« Jennets Stimme klang entschlossen. »Ich werde Euch hiermit nicht allein lassen.«
Averil hatte nicht die Kraft, mit ihr zu streiten. Der Tod jagte ihr keine Angst ein, noch fürchtete sie die Schatten der Toten, aber diese Hässlichkeit war mehr, als sie ertragen konnte.
Emmas Geist schwebte nicht über ihr, wie es bei den Seelen der gewaltsam Getöteten so oft der Fall war. Averil hoffte — betete —, dass ihre Seele frei und nicht mit einem weiteren grässlichen Bann belegt war.
Sie kam zu dem Schluss, dass Beten in diesem Augenblick die einzig sinnvolle Beschäftigung war. Sie kniete nieder, senkte den Kopf und stimmte die Psalmen für die Toten an.
Gereint konnte die liebliche, einsame Stimme aus all dem schrillen Geschrei der Frauen heraushören. Bei ihrem Klang lief ihm ein Schauer über den Rücken. Was sie im Zimmer des Herzogs getan hatten — was sie gewirkt und was sie verhindert hatten —, war mehr, als er erfassen konnte. Dazu brauchte er Zeit und Ruhe.
Beides würde er in dieser Nacht nicht finden. Bernardin war auf dem Weg zum Turm der Frauen gewesen, wie Gereint es vermutet hatte. Er fand den Landvogt im Salon. Er brauchte kaum auszusprechen, was er sich zurechtgelegt hatte. Als die ersten Worte aus ihm herausgesprudelt waren, nickte Bernardin knapp und rauschte an ihm vorbei durch die lärmende Schar der Höflinge und Hofdamen.
Das Tor zum Turm stand offen und war unbewacht. Bernardins Blick verhieß nichts Gutes für diejenigen, die ihren Posten verlassen hatten. Mit dem federnden Gang eines jungen Mannes erklomm er die Treppe, nahm zwei oder sogar drei Stufen auf einmal. Gereint hatte alle Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
Nichts hatte sich verändert im Gemach der Comtesse. Die Tote lag da, wie Gereint es im Gedächtnis hatte. Die Zofe Jennet stand neben der Leiche. Averil kniete davor. Ihr langes Haar fiel über ihren Rücken bis zur Taille hinab. Mit reiner hoher Stimme sang sie die heiligen Worte.
Bernardin wartete auf das Ende des Psalms. Dann sagte er: »Comtesse, Ihr habt eine Wahl zu treffen.«
Averil erhob sich und drehte sich um. Sie hatte sich selbst in einen strahlenden Ruhezustand gesungen.
Gereint spürte, wie sein Herz nach ihr verlangte, sich danach sehnte, ein Teil von ihr zu sein. Das, was sie getan hatten, um den Herzog zu retten, war noch da, leuchtend und stark in seinem Inneren. Er wagte zu hoffen, dass es bei ihr ebenso war.
Sie richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Bernardin, als wäre Gereint niemals in ihrer Welt gewesen. »Welche Wahl wäre das?«, fragte sie. »Das wisst Ihr, Comtesse«, sagte Bernardin. »Entweder Ihr seid tot und hofft, dass der Feind sich täuschen lässt, oder Ihr lebt, um ihm zu zeigen, wie dumm er ist.«
»Wir wissen, wer er ist«, sagte sie. »Es ist so, wie wir es vermutet haben: Es ist der König. Er hat einen Komplizen, einen alten Mann, der vorgibt ein Priester zu sein.«
»Seid Ihr sicher?«
»Ich sah es im Spiegel«, sagte Averil. Gereint fiel auf, dass sie nicht erwähnte, in welchem. »Er war unvorsichtig. Er hat nicht versucht, sich zu verstecken.« Bernardin nickte, dann ließ er den Kopf nach vorn sinken, als sei er zu schwer, um ihn hochzuhalten. »Noch ein Grund mehr, Comtesse, Eure Wahl hier und jetzt zu treffen. Er wird nicht lange zögern, das Herzogtum einzunehmen. Er wird hier eintreffen, sobald seine Armee losmarschieren kann.«
»Drei Tage«, sagte sie. »Auch das war im Spiegel. Er wird zur Beerdigung der Thronerbin kommen, wenn es eine gibt.« »Wird es eine geben?« Sie zögerte. Ihr Rücken war gerade, ihr Gesicht gefasst, aber Gereint spürte, welche Anstrengung es sie kostete, den Anschein von Ruhe aufrechtzuerhalten. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich brauche Zeit zum Nachdenken.«
»Nicht zu lange«, sagte Bernardin.
»Morgen«, sagte sie. »Spätestens. Ich verspreche es.«
Bernardin war nicht zufrieden, das war klar, aber es war auch klar, dass er sie verstand. Sein Tonfall war sanft, als er sagte: »Geht und ruht Euch aus, wenn Ihr könnt. Ich werde tun, was getan
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