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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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schlafend auf einem herabgestürzten Ast gesessen.
    Das einzige Geräusch neben dem Tropfen des Wassers war der Gesang der Waldvögel. Kein Motorengeräusch am Himmel, keine feindlichen Stimmen. Lee hielt es deshalb für sicher, Feuer zu machen, was ihm nach einigen Versuchen auch gelang. Dann kochte er Kaffee.
    »Und jetzt, Hester?«, fragte er.
    »Kommt drauf an. Von vier Zeppelinen hat er drei zerstört.«
    »Ich meine, haben wir unsere Pflicht getan?«
    Sie zuckte mit den Ohren und sagte: »Kann mich an keinen Vertrag erinnern.«
    »Es geht auch nicht um einen Vertrag, sondern eine moralische Verpflichtung.«
    »Wir müssen noch mit einem Zeppelin fertig werden, bevor du an Moral denken kannst, Lee. Dreißig bis vierzig Mann mit Gewehren sind hinter uns her, und zwar kaiserliche Soldaten. Zuerst das Überleben, dann die Moral.«
    Sie hatte natürlich Recht, und während er an dem heißen Kaffee nippte und eine Zigarre rauchte und es allmählich heller wurde, überlegte er, was er als Kommandant des letzten Zeppelins tun würde. Er würde sich zweifellos zurückziehen, warten, bis es hell war, und dann so hoch hinauffliegen, dass er eine lange Strecke des Waldrandes überblicken und sehen konnte, wo Lee und Grumman ihre Deckung verließen.
    Der Fischadlerdæmon Sayan Kötör wachte auf und streckte über dem Platz, wo Lee saß, die mächtigen Schwingen aus. Hester sah hinauf und drehte den Kopf hin und her, um den gewaltigen Dæmon abwechselnd mit beiden goldbraunen Augen zu mustern. Kurz darauf kam der Schamane selbst aus dem Zelt.
    »Arbeitsreiche Nacht«, bemerkte Lee.
    »Und ein arbeitsreicher Tag liegt vor uns. Wir müssen den Wald sofort verlassen, Mr. Scoresby. Unsere Feinde wollen ihn abbrennen.«
    Lee sah ungläubig auf die tropfenden Bäume und Büsche. »Wie denn?«
    »Sie haben eine Maschine, die ein Gemisch aus einer Art Naphtha und Pottasche versprüht, das sich entzündet, wenn es mit Wasser in Berührung kommt. Die kaiserliche Marine hat diesen Kampfstoff für den Krieg mit Nippon entwickelt. Wenn der Wald nass ist, brennt er umso schneller.«
    »Und das wissen Sie einfach so?«
    »So wie Sie wissen, was heute Nacht mit den Zeppelinen passierte. Packen Sie, was Sie mitnehmen wollen, und dann müssen wir los.«
    Lee rieb sich das Kinn. Die wertvollsten Dinge, die er besaß, waren zugleich die, die sich am leichtesten tragen ließen, nämlich die Instrumente aus dem Ballon. Er holte sie also aus dem Korb, verstaute sie sorgfältig in einem Schultersack und vergewisserte sich, dass sein Gewehr geladen und trocken war. Ballon, Korb und Tauwerk ließ er im Gewirr der Äste hängen. Von jetzt an war er kein Aeronaut mehr, es sei denn, er kam durch ein Wunder mit dem Leben davon und verdiente genug Geld, um einen neuen Ballon zu kaufen. Von jetzt an musste er sich wie ein Insekt auf der Erde bewegen.
     
     
    Sie rochen den Rauch, noch bevor sie die Flammen hörten, da der Wind ihn vom Meer landeinwärts trieb. Als sie am Waldrand anlangten, konnten sie das Feuer auch hören, ein tiefes, gieriges Tosen.
    »Warum haben sie das nicht schon vorige Nacht gemacht?«, fragte Lee. »Sie hätten uns im Schlaf rösten können.«
    »Wahrscheinlich wollen sie uns lebendig«, erwiderte Grumman. Er entblätterte einen Ast, um ihn als Wanderstab verwenden zu können. »Und jetzt warten sie ab, wo wir aus dem Wald kommen.«
    Tatsächlich vernahmen sie schon bald das Dröhnen des Zeppelins über dem Knacken der Flammen und ihrem eigenen Keuchen. Sie rannten jetzt, so schnell sie konnten, kletterten über Wurzeln und Felsen und umgefallene Baumstämme und hielten nur an, um Luft zu holen. Sayan Kötör flog über ihnen und kam immer wieder herunter, um ihnen zu sagen, wie sie vorankamen und wie weit die Entfernung zu den Flammen noch war. Bald sahen sie den Rauch über den Bäumen hinter ihnen und dann auch die grell aufschießenden Flammen.
    Überall flohen Tiere aus dem Wald, Eichhörnchen, Vögel und Wildschweine, und ein Chor aufgeregten Quiekens, Kreischens und anderer Alarmrufe hüllte sie ein. Die beiden Männer kämpften sich weiter auf die Baumgrenze zu, die nicht mehr weit vor ihnen lag. Als sie sie erreichten, rollten die Hitzewellen der röhrenden Flammensegel, die bis zu zwanzig Meter in die Luft schlugen, pausenlos über sie hin  weg. Bäume loderten wie Fackeln, der Saft in ihren Adern kochte und sprengte sie auseinander, an den Kiefern strömte das Harz herunter, und die Zweige schienen alle im selben

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