Das Magische Messer
Mensch, deshalb schmückte er seinen Bericht nicht unnötig aus.
»Ich kann Ihnen nicht genau sagen, was er tut, weil ich die philosophischen Details nicht verstehe. Ich kann Ihnen aber sagen, was Seine Lordschaft antreibt, obwohl er nicht weiß, dass ich das weiß. Ich weiß es aus hundert kleinen Anzeichen. Verbessern Sie mich, wenn ich irre, aber die Hexen haben doch andere Götter als wir, ja?«
»Ja, das stimmt.«
»Aber kennen Sie unseren Gott? Den Gott der Kirche, die sogenannte höchste Autorität?«
»Ja.«
»Lord Asriel hat sich mit den Doktrinen der Kirche nie richtig anfreunden können. Ich habe gesehen, wie er angewidert das Gesicht verzog, sobald die Rede auf Sakramente, Buße, Erlösung und dergleichen kam. Wer bei uns die Kirche herausfordert, Serafina Pekkala, ist dem Tod geweiht, aber Lord Asriel ist in seinem Herzen ein Rebell, solange ich ihn kenne, das zumindest weiß ich sicher.«
»Ein Rebell gegen die Kirche?«
»Teilweise, ja. Eine Zeit lang dachte er daran, sich mit Gewalt durchzusetzen, aber er gab das dann wieder auf.«
»Warum? War die Kirche zu mächtig?«
»Nein«, sagte der alte Diener, »das würde meinen Herrn nicht aufhalten. Für Sie klingt das vielleicht seltsam, Serafina Pekkala, aber ich kenne den Mann besser, als jede Frau ihn kennen könnte, besser noch als eine Mutter. Er ist seit fast vierzig Jahren mein Herr und Gegenstand meiner Beobachtungen. Ich kann ihm auf seinen Gedankenflügen genauso wenig folgen, wie ich fliegen kann, aber ich sehe doch, wohin er unterwegs ist. Nein, ich glaube, er hat die Rebellion gegen die Kirche nicht deshalb aufgegeben, weil die Kirche zu mächtig war, sondern weil sie zu schwach war und den Kampf nicht lohnte.«
»Was … was will er dann?«
»Ich glaube, er führt einen größeren Krieg. Ich glaube, er plant den Aufstand gegen die größte aller Mächte. Er sucht den Ort, an dem sich die höchste Autorität persönlich aufhält, um sie zu vernichten. Das glaube ich. Ich fange schon an zu zittern, wenn ich nur davon spreche, Madame, und ich wage kaum daran zu denken. Aber anders kann ich mir nicht erklären, was er tut.«
Serafina saß eine Weile stumm da und dachte über Thorolds Worte nach.
Bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Thorold fort: »Natürlich zieht sich jeder, der etwas derart Tollkühnes wagt, den Zorn der Kirche zu, das versteht sich von selbst. Eine unerhörte Blasphemie, würden sie sagen. Sie würden ihn vor das Geistliche Gericht zitieren und hätten ihn im Handumdrehen zum Tode verurteilt. Ich habe von all dem nie gesprochen und werde es auch nie mehr tun; ich hätte es auch nicht gewagt, Ihnen davon zu erzählen, wenn Sie nicht eine Hexe wären und damit jenseits der Macht der Kirche. Aber das ist die einzige Erklärung, die ich habe. Er sucht die höchste Autorität, um sie zu töten.«
»Ist das denn möglich?«, fragte Serafina.
»Lord Asriels Biografie ist voller unmöglicher Dinge. Ich könnte gar nicht sagen, was er nicht kann. Aber auf den ersten Blick, Serafina Pekkala, ist er vollkommen verrückt. Wenn Engel etwas nicht konnten, wie kann dann ein Mensch wagen überhaupt daran zu denken?«
»Engel? Was sind Engel?«
»Wesen, die nur aus Geist bestehen, sagt die Kirche. Die Kirche lehrt, einige Engel hätten vor der Erschaffung der Welt gegen die höchste Autorität rebelliert und seien aus dem Himmel in die Hölle verstoßen worden. Sie sind gescheitert, das ist entscheidend. Sie schafften es nicht. Dabei hatten sie die Macht von Engeln. Lord Asriel ist nur ein Mensch mit der Kraft eines Menschen, nicht mehr. Aber sein Ehrgeiz ist grenzenlos. Er wagt zu tun, was andere Menschen nicht zu denken wagen. Und sehen Sie doch, was er schon getan hat: Er hat den Himmel aufgerissen und den Weg in eine andere Welt geöffnet. Wer hat das je getan? Wer hätte überhaupt nur daran gedacht? Deshalb sagt ein Teil von mir, er ist verrückt, durchgedreht, gottlos. Aber ein anderer Teil von mir denkt, er ist eben Lord Asriel, anders als andere Menschen. Vielleicht … Wenn es überhaupt möglich ist, dann schafft er es und sonst niemand.«
»Und was werden Sie tun, Thorold?«
»Ich bleibe hier und warte. Ich bewache dieses Haus, bis er zurückkehrt und mir etwas anderes befiehlt oder bis ich sterbe. Aber darf ich Ihnen dieselbe Frage stellen, Madame?«
»Ich sorge dafür, dass dem Kind nichts passiert«, erwiderte sie. »Vielleicht komme ich eines Tages wieder hier vorbei, Thorold. Es freut mich zu wissen, dass
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