Das Magische Messer
Nase bekommen.«
In Wirklichkeit wusste sie nicht, wohin sie sich wenden und was sie als Nächstes tun sollte. Nur eines wusste sie ganz sicher: In ihrem Köcher steckte ein Pfeil, der für Mrs. Coulters Kehle bestimmt war.
Sie machte sich auf den Weg nach Süden, weg von jener bedrohlich durch den Nebel scheinenden anderen Welt. Auf dem Flug begannen Serafinas Gedanken immer mehr um eine Frage zu kreisen: Was tat Lord Asriel?
Denn alle Ereignisse, die die Welt auf den Kopf gestellt hatten, hatten ihren Ursprung in seinem geheimnisvollen Tun.
Serafinas Problem war, dass sie ihr Wissen zumeist aus der Natur schöpfte. Sie konnte jedes Tier aufspüren, jeden Fisch fangen und die seltensten Beeren finden, und sie konnte die Eingeweide des Baummarders lesen, in den Schuppen des Flussbarsches verborgene Weisheiten entziffern und die Warnungen im Blutenstaub von Krokussen deuten, doch waren Tier und Pflanze Kinder der Natur und enthüllten ihr nur die Geheimnisse der Natur.
Um etwas über Lord Asriel zu erfahren, musste sie anders wohin. In der Hafenstadt Trollesund hielt der Hexenkonsul Dr. Lanselius den Kontakt zur Menschenwelt, also flog Serafina Pekkala durch den Nebel dorthin, um ihn zu fragen, was er wusste. Bevor sie bei seinem Haus landete, kreiste sie über dem Hafen. Gespenstische Nebelfetzen und –Schwaden trieben über das eisige Wasser, und ein Lotse dirigierte gerade ein großes Schiff aus einem afrikanischen Land herein. Vor dem Hafen ankerten weitere Schiffe. Serafina hatte noch nie so viele gesehen.
Als die frühe Dämmerung hereinbrach, flog sie nach unten und landete im Garten hinter dem Haus des Konsuls. Sie klopfte ans Fenster, und Dr. Lanselius öffnete selbst die Tür, einen Finger über die Lippen gelegt.
»Seien Sie gegrüßt, Serafina Pekkala«, sagte er. »Kommen Sie schnell herein und machen Sie es sich bequem. Sie bleiben aber besser nicht lang.« Er spähte durch die Vorhänge eines nach vorn zur Straße gehenden Fensters und bot ihr einen Stuhl am Feuer an. »Einen Schluck Wein?«
Sie nippte an dem goldfarbenen Tokaier und berichtete, was sie an Bord des Schiffes gesehen und gehört hatte.
»Glauben Sie, die Menschen haben verstanden, was sie über das Kind sagte?«, fragte der Konsul.
»Nicht alles, nein. Aber sie wissen, dass das Kind wichtig ist. Und diese Frau macht mir Angst, Dr. Lanselius. Ich glaube, ich werde sie töten, aber trotzdem macht sie mir Angst.«
Der Konsul nickte. »Mir auch.«
Serafina hörte zu, was er von den Gerüchten zu berichten hatte, die in der Stadt kursierten. Inmitten des unentwirrbaren Durcheinanders begannen sich einige Fakten deutlich abzuzeichnen.
»Es heißt, das Magisterium versammle zur Zeit die größte Armee aller Zeiten, die allerdings nur eine Vorhut sein soll. Und von einigen Soldaten erzählt man sich hässliche Dinge, Serafina Pekkala. Ich habe von Bolvangar gehört und davon, was sie dort getan haben – dass sie Kindern die Dæmonen ab geschnitten haben, ein so entsetzliches Verbrechen, wie ich es noch nie gehört habe – also, es scheint ein ganzes Regiment von Soldaten zu geben, die man genauso misshandelt hat. Kennen Sie den Begriff Zombie? Zombies haben vor nichts Angst, weil sie keinen eigenen Willen mehr besitzen. Einige von ihnen befinden sich in diesem Augenblick hier in der Stadt. Die Behörden halten sie zwar versteckt, aber es wurde trotzdem bekannt, und die Bewohner der Stadt haben entsetzliche Angst.«
»Wie steht es mit den anderen Hexenclans?«, fragte Serafina Pekkala. »Was wissen Sie von ihnen?«
»Die meisten sind nach Hause zurückgekehrt. Die Hexen warten alle besorgt ab, was als Nächstes passieren wird, Serafina Pekkala.«
»Und was hört man von der Kirche?«
»Dort ist man völlig verwirrt. Man weiß nicht, was Lord Asriel beabsichtigt.«
»Ich weiß es auch nicht«, sagte Serafina, »und ich habe auch keine Vorstellung, was es sein könnte. Was glauben Sie denn, Dr. Lanselius?«
Er rieb mit dem Daumen zärtlich den Kopf seines Dæmons, einer Schlange.
»Lord Asriel ist Wissenschaftler«, sagte er nach einer Weile, »aber die Wissenschaft ist nicht seine Hauptleidenschaft. Auch die Politik nicht. Ich bin ihm nur einmal begegnet und hatte den Eindruck einer sehr leidenschaftlichen und starken, aber nicht despotischen Natur. Ich glaube nicht, dass er herrschen will … Ich weiß es nicht, Serafina Pekkala. Wahrscheinlich könnte es Ihnen sein Diener sagen. Er heißt Thorold und war
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