Das Magische Messer
Sie dann da sein werden.«
»Ich rühre mich nicht von der Stelle«, sagte er.
Sie lehnte sein Angebot, etwas zu essen, ab und verabschiedete sich.
Kurz darauf stieß sie wieder zu ihrem Dæmon. Schweigend stiegen sie auf und flogen über das Nebelgebirge. Serafina war zutiefst bekümmert und wusste auch, warum. Jeder kleinste Mooszweig, jede vereiste Pfütze, jede noch so kleine Mücke ihrer Heimat zerrte an ihr und rief sie zurück. Serafina hatte Angst um all diese Dinge, aber auch Angst um sich selbst, denn sie würde sich verändern müssen; sie war dabei, sich in menschliche Angelegenheiten einzumischen, in die Probleme der Menschen. Lord Asriels Gott war nicht der ihre. Wurde sie allmählich selbst zu einem Menschen? Hörte sie auf eine Hexe zu sein?
Wenn ja, dann konnte sie ihre Aufgabe nicht allein bewältigen.
»Lass uns nach Hause fliegen, Kaisa«, sagte sie. »Wir müssen mit unseren Schwestern reden. Was hier passiert, ist für uns allein zu groß.«
Und durch wallende Nebelbänke eilten sie zum Enarasee, nach Hause.
In den bewaldeten Höhlen am See stießen sie auf die anderen Mitglieder ihres Clans und auch auf Lee Scoresby. Der Aeronaut hatte nach dem Zusammenstoß über Svalbard mit knapper Not verhindern können, dass sein Ballon abstürzte. Die Hexen hatten ihn in ihre Heimat gebracht, und dort hatte er begonnen die Schäden an Ballon und Korb zu reparieren.
»Sehr erfreut, Sie zu sehen, Madame«, sagte er. »Irgend eine Nachricht von dem Mädel?«
»Überhaupt keine, Mr. Scoresby. Wollen Sie heute Abend an unserer Ratsversammlung teilnehmen und mit uns beraten, was zu tun ist?«
Der Texaner riss überrascht die Augen auf, denn soweit er wusste, war noch kein Mensch je aufgefordert worden, einem Hexenrat beizusitzen.
»Es wird mir eine große Ehre sein«, sagte er. »Vielleicht kann ich die eine oder andere Idee beisteuern.«
Den ganzen Tag über kamen die Hexen, wie schwarze Schneeflocken von einem Sturm herangetrieben. In flattern den Seidengewändern schössen sie über den Himmel, der er füllt war vom Sausen der durch die Nadeln ihrer Wolken kiefernzweige strömenden Luft. Die Menschen, die in den tropfenden Wäldern jagten oder zwischen schmelzenden Eis schollen fischten, hörten durch den Nebel ein Wispern und Raunen, und wo der Himmel aufriss, blickten sie auf und sahen die Hexen wie dunkle, auf einer verborgenen Strömung treibende Flecken über den Himmel jagen.
Am Abend waren die Kiefern um den See von Hunderten von Feuern erleuchtet. Das größte Feuer brannte vor der Versammlungshöhle. Dort kamen die Hexen, nachdem sie gegessen hatten, zusammen. In der Mitte saß Serafina Pekkala, auf ihrem blonden Haar die Krone aus kleinen, scharlachroten Blumen. Zu ihrer Linken saß Lee Scoresby, zu ihrer Rechten eine Besucherin, die Königin der lettischen Hexen, Ruta Skadi.
Sie war erst vor einer Stunde zu Serafinas Überraschung eingetroffen. Serafina hielt Mrs. Coulter für schön; Ruta Skadi war so schön wie Mrs. Coulter, doch hatte ihre Schönheit die zusätzliche Dimension des Geheimnisvollen, Unheimlichen. Sie hatte mit Geistern verkehrt und das sah man. Sie war lebhaft und leidenschaftlich und hatte große, schwarze Augen; es hieß, Lord Asriel persönlich sei ihr Liebhaber gewesen. Sie trug schwere, goldene Ohrringe, und auf ihren schwarzen Locken saß eine mit den Reißzähnen des Schneetigers besetzte Krone. Serafinas Dæmon Kaisa hatte von Ruta Skadis Dæmon erfahren, dass Ruta die Tiger selbst getötet hatte, um einen Tatarenstamm zu bestrafen, der die Tiger anbetete; die Stammesmitglieder hatten versäumt, Ruta ihre Ehrerbietung zu bezeugen, als diese ihr Gebiet besucht hatte. Angst und Schwermut hatten die Stammesmitglieder nach dem Verlust ihrer Tigergötter heimgesucht, doch als sie bei Ruta angefragt hatten, ob sie statt der Tiger sie anbeten dürften, hatte diese verächtlich abgelehnt. Was könne ihr diese Anbetung nützen, hatte sie gefragt; den Tigern habe sie auch nichts genützt. So war Ruta Skadi: schön, stolz und erbarmungslos.
Serafina wusste nicht, warum Ruta gekommen war, doch hieß sie sie freundlich willkommen, und die Etikette verlangte, dass sie rechts von Serafina saß. Als alle versammelt waren, begann Serafina zu sprechen.
»Schwestern! Ihr wisst, warum wir zusammengekommen sind: Wir müssen beschließen, was wir angesichts der jüngs ten Ereignisse tun wollen. Das Universum ist aufgebrochen und Lord Asriel hat den Weg von
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