Das Magische Messer
Antwort sofort. Ein ganzer Strom tanzender Lichter, zum Verwechseln ähnlich den schimmernden Vorhängen der Aurora, strahlte über die Scheibe. Die Lichter formten sich zu Mustern, die sich schon im nächsten Augen blick wieder auflösten und neu bildeten, in anderen Formen oder anderen Farben. Sie verschlangen sich zu Girlanden, breiteten sich aus und explodierten in leuchtenden Schauern, die im Zickzack hierhin und dorthin schwenkten wie eine Vogelschwarm, der am Himmel die Richtung ändert. Und während Lyra zusah, empfand sie dasselbe wie damals, als sie angefangen hatte, das Alethiometer zu lesen: eine innere Erregung am Rand des Verstehens.
Sie stellte noch eine Frage: Ist das Staub? Ist das, was diese Muster bildet, dasselbe, was die Nadel des Alethiometers bewegt?
Die Antwort erfolgte in weiteren Spiralen und Schlieren aus Licht. Lyra vermutete, dass sie »ja« bedeuteten. Dann fiel ihr etwas anderes ein. Sie wandte sich Dr. Malone zu, um etwas zu sagen, und sah, dass diese mit offenem Mund neben ihr saß, die Hand an die Stirn gelegt.
»Was ist denn?«, fragte sie.
Der Bildschirm wurde dunkel und Dr. Malone sah sie wie betäubt an.
»Was ist denn los?«, wiederholte Lyra.
»Eh – du hast gerade die beste Darstellung auf den Bild schirm geholt, die ich je gesehen habe, das ist alles«, sagte Dr. Malone. »Wie hast du das gemacht? Was hast du gedacht?«
»Ich dachte eben, man kann es noch deutlicher hinkriegen«, sagte Lyra.
»Noch deutlicher? So deutlich war es noch nie!«
»Aber was bedeuten die Formen? Können Sie sie lesen?«
»Nein«, sagte Dr. Malone, »man liest sie ja auch nicht, wie man eine Mitteilung liest, so geht das nicht. Was passiert ist, dass die Schatten auf die Aufmerksamkeit reagieren, die man ihnen widmet. Das allein ist schon revolutionär: Es ist dein Bewusstsein, auf das sie reagieren.«
Lyra schüttelte den Kopf. »Aber ich meine die Farben und Formen auf dem Bildschirm. Die Schatten könnten ja auch andere Formen bilden, alles was Sie wollen. Sie könnten auch Bilder formen, wenn Sie wollten. Sehen Sie.«
Sie wandte sich wieder dem Schirm zu und konzentrierte sich, aber diesmal tat sie, als sei der Schirm das Alethiometer mit allen sechsunddreißig kreisförmig auf dem Zifferblatt an geordneten Symbolen. So gut kannte sie diese, dass sich ihre Finger ganz von selbst in ihrem Schoß bewegten, während sie in Gedanken die Zeiger so stellte, dass sie auf die Kerze (für Verstehen), Alpha und Omega (für Sprache) und die Ameise (für Fleiß) zeigten; dazu formulierte sie die Frage: Was müssten die Wissenschaftler hier tun, wenn sie die Sprache der Schatten verstehen wollten?
Der Schirm antwortete mit der Geschwindigkeit eines Gedankens, und aus dem Durcheinander der Linien und Blitze entstand in vollkommener Klarheit eine Folge von Bildern: Kompass, noch einmal Alpha und Omega, Blitz und Engel. Jedes Bild blitzte verschieden oft auf, und dann kamen drei weitere Bilder: Kamel, Garten und Mond.
Lyra verstand ihre Bedeutung und tauchte aus ihrer Konzentration auf, um sie Dr. Malone zu erklären. Als sie sich diesmal zu ihr umdrehte, saß Dr. Malone zurückgelehnt in ihrem Stuhl, kreidebleich im Gesicht, und hielt sich an der Tischkante fest.
»Er spricht in meiner Sprache«, sagte Lyra, »in der Sprache der Bilder, wie das Alethiometer. Aber er sagt, er könnte auch ganz gewöhnliche Sprache verwenden, Wörter, wenn man es entsprechend einrichtet. Sie könnten der Höhle sagen, dass sie Wörter auf den Bildschirm schreiben soll. Man müsste das allerdings ganz genau in Zahlen ausrechnen – das bedeutet der Kompass –, und der Blitz steht für anbarische Energie, ich meine elektrischen Strom, davon brauchte man auch mehr. Und der Engel hat mit den übermittelten Nachrichten zu tun. Die Höhle will uns ganz bestimmte Dinge sagen. Als dann die zweite Folge von Bildern kam … Sie bedeuteten Asien, ganz weit im Osten, aber nicht ganz, keine Ahnung, was das für ein Land wäre – vielleicht China… Und dort reden sie auch mit dem Staub, ich meine den Schatten, wie Sie hier und ich – nur dass ich Bilder habe, und dort verwenden sie Stöckchen. Gemeint war, glaube ich, das Bild da an der Tür, aber ich habe es nicht genau verstanden. Als ich es vorhin sah, hatte ich gleich das Gefühl, dass es irgendwie wichtig ist, ich wusste nur nicht inwiefern. Offenbar kann man also auf viele Arten mit den Schatten reden.«
Dr. Malone hatte ihr mit angehaltenem Atem
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