Das Magische Messer
Denn weißt du was? Sie haben Bewusstsein. Jawohl, Schatten sind Bewusstseins-Teilchen. Hast du schon mal so was Blödsinniges gehört? Kein Wunder, dass wir kein Geld mehr bekommen.«
Sie nippte an ihrem Kaffee. Lyra sog ihre Worte auf wie eine durstige Blume Wasser.
»Ja«, fuhr Dr. Malone fort, »diese Teilchen wissen, dass wir hier sind, und antworten uns. Und jetzt kommt das Verrückte: Man sieht sie nur dann, wenn man damit rechnet, wenn man sich in einen ganz bestimmten geistigen Zustand versetzt. Man muss daran glauben, dass man sie sehen wird, und sich zugleich entspannen, man muss in der Lage sein – wo ist dieses Zitat …«
Sie suchte in dem Wust von Papieren auf ihrem Schreibtisch und fand schließlich einen Zettel, auf den jemand mit grüner Tinte etwas geschrieben hatte.
»›… dazu imstand‹«, las sie vor, »›in Ungewissheiten, Rätseln, Zweifeln auszuharren, ohne ungeduldig nach Tat- und Ursache zu verlangen‹ – in diesen Zustand muss man sich versetzen. Die Zeile stammt übrigens von dem Dichter Keats, ich bin gestern auf sie gestoßen. Man versetzt sich also in die richtige geistige Verfassung und sucht dann in der Höhle –«
»Der Höhle?«, fragte Lyra.
»Entschuldigung, im Computer. Wir nennen ihn Höhle. Die Schatten an der Wand der Höhle, weißt du, von Platon. Das ist wieder von unserem gebildeten Amateurarchäologen. Er ist zu einem Bewerbungsgespräch nach Genf gefahren, und ich glaube nicht, dass er wiederkommt … Wo war ich stehen geblieben? Ach ja richtig, bei der Höhle. Sobald die Verbindung da ist und man denkt, antworten die Schatten. Es kann keinen Zweifel geben. Deine Gedanken ziehen sie an wie einen Schwarm Vögel …«
»Und die Schädel?«
»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Oliver Payne, dieser Kollege von mir, untersuchte eines Tages nur so zum Spaß einige Dinge mit der Höhle. Und es war so seltsam, es machte überhaupt keinen Sinn, wie ihn ein Physikerer warten würde. Er untersuchte ein Stück Elfenbein, ein unbearbeitetes Stück, und fand keine Schatten. Es reagierte nicht. Aber eine aus Elfenbein geschnitzte Schachfigur reagierte. Ein von einer Planke abgebrochener Holzsplitter reagierte nicht, ein hölzernes Lineal dagegen schon. Und eine aus Holz geschnitzte kleine Statue hatte mehr … mein Gott, ich spreche hier doch von Elementarteilchen, winzigen Partikeln aus im Grunde nichts. Aber sie wussten, um welche Gegenstände es sich handelte. Alles, was mit menschlichem Denken zu tun hatte, was von Menschen bearbeitet worden war, war von Schatten umgeben … Und dann bekam Oliver, also Dr. Payne, von einem Freund im Museum einige fossile Schädel und untersuchte sie, um festzustellen, wie weit dieser Sachverhalt zeitlich zurückging. Es gab einen Wendepunkt vor ungefähr dreißig- bis vierzigtausend Jahren. Davor keine Schatten, danach jede Menge. Und das ist in etwa die Zeit, als die ersten modernen Menschen auftauchten. Ich meine unsere entfernten Vorfahren, die sich von uns aber im Grunde nicht unter scheiden …«
»Das ist Staub«, sagte Lyra bestimmt, »nichts anderes.«
»Aber man kann so was in einem Antrag auf Forschungsgelder nicht sagen, wenn man ernst genommen werden will. Es ergibt keinen Sinn, so etwas kann es nicht geben. Es ist unmöglich, und wenn nicht unmöglich, dann belanglos oder, wenn es weder das eine noch das andere ist, nur peinlich.«
»Ich möchte die Höhle sehen«, sagte Lyra. Sie stand auf.
Dr. Malone fuhr sich mit den Händen durch die Haare und schloss ein paarmal die Lider, um das Brennen ihrer müden Augen zu lindern.
»Ja, warum eigentlich nicht«, sagte sie, »vielleicht haben wir sie schon morgen nicht mehr. Komm mit.«
Sie ging Lyra voraus in das andere Zimmer. Es war größer und voll gestopft mit elektronischen Apparaturen.
»Hier ist sie«, sagte sie und zeigte auf einen leeren, grauen Bildschirm. »Hinter diesem Drahtgewirr befindet sich der Detektor. Um die Schatten zu sehen, muss man sich an einige Elektroden anschließen, wie wenn man Gehirnströme misst.«
»Ich möchte das ausprobieren«, sagte Lyra.
»Du wirst nichts sehen. Außerdem bin ich zu müde. Es ist zu kompliziert.«
»Bitte! Ich weiß genau, was ich tun muss!«
»Ja, wirklich? Ich wollte, ich wüsste es. Nein, um Himmels willen. Das hier ist ein teures und extrem schwieriges wissenschaftliches Experiment. Du kannst hier nicht einfach reinplatzen und damit spielen wollen, als sei das ein Flipper … Wo kommst du
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