Das Magische Messer
–«
»Was nützt das jetzt? Es ist mir egal, ob es dir Leid tut oder nicht. Jetzt ist es zu spät.«
»Aber Will, du und ich, wir müssen einander doch helfen, weil sonst niemand da ist!«
»Ich wusste nicht, wie.«
»Ich auch nicht, aber …«
Sie brach mitten im Satz ab, und in ihren Augen glomm et was auf. Sie rannte zu ihrem Rucksack zurück, den sie auf dem Gehweg hatte stehen lassen und wühlte fieberhaft in ihm herum.
»Ich weiß, wie er heißt! Und wo er wohnt! Schau her!« Sie hielt eine kleine, weiße Karte hoch. »Die hat er mir im Museum gegeben! Wir können zu ihm gehen und das Alethiometer holen!«
Will nahm die Karte und las:
Sir Charles Latrom, CBE
Limefield House
Old Headington
Oxford
»Er ist ein Sir«, sagte er, »also ein Ritter. Das heißt, dass die Leute automatisch ihm glauben werden und nicht uns. Und was soll ich überhaupt tun? Zur Polizei gehen? Die sucht mich! Wenn nicht gestern, dann sicher heute. Und du kannst auch nicht gehen, denn dich kennen sie jetzt ja auch, und sie wissen, dass du mich kennst, das scheidet also auch aus.«
»Aber wir könnten es stehlen. Wir könnten uns in sein Haus schleichen und es stehlen. Ich weiß, wo Headington ist, in meinem Oxford gibt es auch eins. Es ist nicht weit. In einer Stunde wären wir dort.«
»Das ist wirklich eine dumme Idee.«
»Iorek Byrnison würde sofort hingehen und ihm den Kopf abreißen. Wenn er doch hier wäre. Er würde –«
Sie schwieg. Will brauchte sie nur anzusehen, und schon verlor sie den Mut. Es wäre ihr genauso ergangen, wenn der Panzerbär sie so angesehen hätte, denn etwas in Wills Augen erinnerte sie an Iorek, jung wie sie waren.
»So etwas Dummes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört«, sagte er. »Glaubst du, wir können einfach heimlich in sein Haus schleichen und es mitnehmen? Denk doch mal nach. Gebrauche doch endlich mal deinen Verstand, Mensch. Der hat doch, wenn er reich ist, alle möglichen Alarmanlagen, Klingeln, die losgehen, Spezialschlösser und Lampen mit Infrarotschaltern, die von selbst angehen –«
»Davon habe ich noch nie gehört«, sagte Lyra. »So etwas gibt es in meiner Welt nicht. Das konnte ich nicht wissen, Will.«
»Gut, dann überleg mal das: Er hat ein ganzes Haus, um es zu verstecken, und wie lange braucht ein Einbrecher, bis er je den Schrank, jede Schublade und jedes Versteck in einem gan zen Haus durchsucht hat? Die Männer, die zu mir nach Hause kamen, hatten Stunden Zeit, und sie fanden trotzdem nicht, was sie suchten, und ich wette, dieser Mann hat ein viel größeres Haus als wir. Und wahrscheinlich auch einen Safe. Selbst wenn wir also in sein Haus hineinkämen, würden wir es nicht rechtzeitig finden, bevor die Polizei da wäre.«
Lyra senkte den Kopf. Will hatte Recht.
»Was sollen wir dann tun?«, fragte sie.
Er antwortete nicht. Doch von jetzt an hieß es wir, soviel war sicher. Er war an sie gebunden, ob ihm das gefiel oder nicht.
Will ging zum Ufer, dann zur Terrasse zurück und wieder zum Ufer. Er schlug die Hände aneinander und zermarterte sich das Gehirn auf der Suche nach einer Lösung, aber es wollte ihm keine einfallen. Wütend schüttelte er den Kopf.
»Geh doch einfach hin«, sagte er. »Geh einfach hin und besuche ihn. Es hat ja auch keinen Sinn, deine Wissenschaftlerin um Hilfe zu bitten, wenn die Polizei schon bei ihr war. Sie wird der Polizei doch eher glauben als uns. Wenn wir in seinem Haus sind, sehen wir zumindest, wo die wichtigen Zimmer liegen. Das ist wenigstens etwas.«
Ohne ein weiteres Wort ging er nach drinnen und in das Zimmer, in dem er geschlafen hatte. Dort steckte er die Briefe unter das Kopfkissen. Selbst wenn er erwischt wurde, würden die anderen sie nicht bekommen.
Lyra erwartete ihn auf der Terrasse, Pantalaimon als Spatz auf ihrer Schulter. Sie sah schon etwas zuversichtlicher aus.
»Wir kriegen es zurück«, sagte sie. »Ich spüre es.«
Will schwieg und sie machten sich auf den Weg zum Fenster.
Sie brauchten anderthalb Stunden, um zu Fuß nach Heading ton zu gelangen. Lyra ging voraus, wobei sie das Stadtzentrum sorgfältig mied, und Will hielt nach allen Richtungen Aus schau und schwieg. Lyra hatte viel größere Schwierigkeiten, sich in dem neuen Oxford zurechtzufinden, als in der Arktis, auf dem Weg nach Bolvangar, denn dort hatte sie die Gypter und Iorek Byrnison dabeigehabt. Und die Tundra steckte zwar auch voller Gefahren, aber man erkannte sie wenigstens, wenn man
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