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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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ihnen begegnete. Hier dagegen, in der Stadt, die ihre und zugleich nicht ihre war, konnte die Gefahr ein freundliches Gesicht haben, und der Verrat lächelte und duftete süß. Und auch wenn man sie hier nicht töten oder von Pantalaimon abschneiden wollte, hatte man ihr doch ihren einzigen Führer weggenommen. Ohne das Alethiometer war sie … nur ein kleines Mädchen, verloren.
    Limefield House war ein in einem warmen, honigfarbenen Ton gestrichenes Gebäude, und die Fassade war zur Hälfte mit wildem Wein überwachsen. Es stand in einem großen, gepflegten Garten mit Büschen auf einer Seite und einem Kiesweg, der in einem Bogen zum Vordereingang führte. Der Rolls-Royce parkte vor einer Doppelgarage auf der linken Seite. Alles, was Will sah, zeugte von Reichtum und Macht, von jener kühlen Überlegenheit, die einige Engländer der Oberschicht immer noch als selbstverständlich voraussetzten. Unwillkürlich biss Will die Zähne zusammen, ohne zu wissen warum, bis ihm plötzlich ein Erlebnis einfiel, das er als ganz kleiner Junge gehabt hatte: Seine Mutter hatte ihn in ein ganz ähnliches Haus mitgenommen – sie hatten ihre besten Kleider angezogen, und er hatte ganz brav sein müssen, und ein alter Mann und eine alte Frau hatten seine Mutter zum Weinen gebracht, und als sie gegangen waren, hatte sie immer noch geweint …
    Lyra bemerkte, wie Will schneller atmete und die Fäuste ballte, doch war sie einfühlsam genug, nicht nach dem Grund zu fragen; es hatte nur mit ihm zu tun, nicht mit ihr.
    Dann holte er tief Luft. »Tja«, sagte er, »versuchen wir’s.«
    Er ging auf das Haus zu, dicht gefolgt von Lyra. Sie kamen sich sehr nackt vor.
    Die Tür hatte einen altmodischen Klingelzug, wie Lyra ihn aus ihrer Welt kannte, und Will wusste nicht, wo er klingeln sollte, bis Lyra es ihm zeigte. Er läutete, und tief im Innern des Hauses erklang eine Glocke.
    Der Mann, der die Tür öffnete, war der Bedienstete, der das Auto gefahren hatte, nur seine Mütze trug er jetzt nicht. Er sah zuerst Will an und dann Lyra, worauf sich sein Gesichtsausdruck kaum merklich änderte.
    »Wir hätten gern mit Sir Charles Latrom gesprochen«, sagte Will.
    Er hatte den Unterkiefer vorgeschoben wie am Abend zu  vor, als sie vor dem Turm den Steine werfenden Kindern gegenübergestanden hatten. Der Diener nickte.
    »Wartet hier«, sagte er. »Ich melde euch bei Sir Charles an.«
    Er schloss die Tür. Sie war aus massiver Eiche und hatte zwei schwere Schlösser und zusätzliche Riegel oben und unten, obwohl Will es für unwahrscheinlich hielt, dass ein Einbrecher, der bei Trost war, sich den Haupteingang vornehmen würde. An der Vorderseite des Hauses war außerdem deutlich sichtbar eine Alarmanlage angebracht, und an den beiden Ecken hing je ein Scheinwerfer. Es wäre ihnen niemals gelungen, sich dem Haus unbemerkt zu nähern, von Einbrechen ganz zu schweigen.
    Sie hörten gleichmäßige Schritte, und dann ging die Tür wieder auf. Will sah in das Gesicht eines Mannes, der so viel besaß, dass er noch mehr haben wollte. Es war verwirrend glatt, ruhig und selbstbewusst, ohne ein Spur von Schuld oder Scham.
    Da er Lyras Ungeduld und Zorn neben sich spürte, sagte er rasch: »Entschuldigen Sie bitte, aber Lyra meint, als Sie sie vorhin in Ihrem Auto mitgenommen haben, hätte sie dort aus Versehen etwas liegen lassen.«
    »Lyra? Ich kenne keine Lyra. Was für ein ungewöhnlicher Name. Ich kenne nur ein Mädchen namens Lizzie. Und wer bist du?«
    Will hätte sich ohrfeigen können, dass er das vergessen hatte. »Ich bin ihr Bruder Mark.«
    »Aha. Guten Tag Lizzie, oder Lyra. Kommt rein.«
    Er trat zur Seite. Weder Will noch Lyra hatten damit gerechnet, und verunsichert traten sie ein. Der Flur lag im Halb  dunkel und roch nach Bienenwachs und Blumen. Alles war sauber und glänzte, und in einem Mahagonischränkchen an der Wand standen anmutige Figürchen aus Porzellan. Im Hintergrund sah Will den Diener stehen, als warte er auf weitere Anweisungen.
    »Kommt in mein Arbeitszimmer«, sagte Sir Charles und öffnete eine andere Tür im Flur.
    Er war höflich, geradezu herzlich, doch war trotzdem noch etwas anderes zu spüren, das Will auf der Hut sein ließ. Das Arbeitszimmer war geräumig und gemütlich, wie es nach Zigarren riechende Arbeitszimmer mit Ledersesseln sind, und wirkte voll gestopft mit Bücherregalen, Bildern und Jagdtrophäen. Drei oder vier Schränkchen mit Glastüren enthielten alte wissenschaftliche Instrumente – Mikroskope

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