Das Magische Messer
der Hand hielt er eine staubige, zerknitterte Tube mit einer ganz gewöhnlichen antiseptischen Salbe, wie Will sie in seiner Welt in jeder Apotheke bekommen hätte. Der Alte tat, als sei es Myrrhe. Will sah weg.
Während der Mann die Wunde verband, bedeutete Pantalaimon Lyra schweigend, zum Fenster zu kommen. Er saß in Gestalt eines Turmfalken auf dem Fenstersims, und seine Au gen hatten unten eine Bewegung bemerkt. Lyra trat neben ihn und sah eine vertraute Gestalt: Angelica rannte auf ihren älteren Bruder Tullio zu, der mit dem Rücken zu einer Wand auf der anderen Seite der Gasse stand und mit den Armen durch die Luft fuchtelte, als wolle er einen Schwärm Fledermäuse verscheuchen. Dann drehte er sich um, fuhr mit den Händen über die Steine der Wand, sah jeden einzelnen genau an, zählte sie, befühlte ihre Kanten und zog die Schultern ein und schüttelte den Kopf, als wollte er etwas hinter sich abwehren.
Verzweifelt rannte Angelica zu ihm, gefolgt von dem kleinen Paolo, und als sie ihn erreicht hatten, packten sie ihn an den Armen und versuchten ihn von seinen unsichtbaren Peinigern wegzuzerren.
Und dann begriff Lyra mit plötzlich aufsteigender Übelkeit, was da vorging: Der Mann wurde von Gespenstern an gegriffen. Angelica wusste das, obwohl sie sie natürlich nicht sehen konnte, und der kleine Paolo weinte und schlug ins Leere, um sie zu vertreiben, doch es nützte nichts. Tullio war verloren. Seine Bewegungen wurden immer langsamer und schon bald hörten sie ganz auf. Angelica klammerte sich an ihn und schüttelte ihn am Arm, aber nichts konnte ihn mehr aufwecken, und Paolo rief immer wieder seinen Namen, als ob ihn das zurückbringen könnte.
Angelica schien zu spüren, dass Lyra sie beobachtete, und sah auf. Einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Lyra zuckte zurück, als habe das Mädchen sie geschlagen, so leidenschaftlich brannte der Hass in ihren Augen, und als Paolo dem Blick seiner Schwester folgte und Lyra erkannte, schrie er mit seiner piepsigen Jungenstimme: »Wir bringen dich um! Du bist schuld! Wir bringen dich um, verlass dich drauf!«
Die beiden Kinder wandten sich um und rannten weg; den bewegungslos dastehenden Bruder ließen sie zurück. Eingeschüchtert und schuldbewusst zog Lyra den Kopf zurück und schloss das Fenster. Die anderen hatten nichts gehört; Giacomo Paradisi war noch dabei, Salbe auf die Wunde zu streichen. Lyra versuchte zu verdrängen, was sie gesehen hatte, und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf Will.
»Sie müssen ihm etwas um den Arm binden«, sagte sie, »sonst hört es nicht auf zu bluten.«
»Ja, ja, ich weiß«, sagte der Alte, doch es klang traurig.
Will sah weg, als sie ihn verbanden, und trank in kleinen Schlucken den Schnaps. Schon bald nahm er alles nur noch wie durch einen Schleier wahr, obwohl seine Hand schrecklich wehtat.
»Fertig«, sagte Giacomo Paradisi. »Hier ist das Messer, es gehört dir.«
»Ich will es nicht«, sagte Will. »Ich will damit nichts zu tun haben.«
»Du hast keine Wahl«, sagte der Alte. »Jetzt bist du der Träger.«
»Sagten Sie nicht, das seien Siel«, fragte Lyra.
»Meine Zeit ist vorbei. Das Messer weiß, wann es die eine Hand verlassen und in eine andere wechseln muss, und ich weiß, woran man den neuen Träger erkennt. Ihr glaubt mir nicht? Seht!«
Er hielt seine linke Hand hoch. Auch ihr fehlten, wie bei Will, der kleine Finger und der Ringfinger.
»Ja«, sagte er, »auch ich habe gekämpft und diese Finger verloren, das Mal des Trägers. Und auch ich wusste vorher nichts davon.«
Lyra setzte sich hin, die Augen weit aufgerissen. Will hielt sich mit seiner gesunden Hand an dem verstaubten Tisch fest. Er rang um Worte.
»Aber ich – wir sind nur hergekommen, weil – weil jemand Lyra etwas gestohlen hat, und er wollte das Messer haben und sagte, wenn wir es ihm bringen, dann würde er …«
»Ich kenne diesen Mann. Er ist ein Lügner und Betrüger. Er würde euch gar nichts dafür geben, müsst ihr wissen. Er will das Messer, und sobald er es hat, wird er euch verraten. Er wird nie ein Träger sein. Das Messer gehört jetzt rechtmäßig dir.«
Mit heftigem Widerwillen sah Will das Messer an. Dann zog er es zu sich herüber. Es wirkte wie ein ganz gewöhnlich aussehender Dolch mit einer rund zwanzig Zentimeter lan gen, zweischneidigen Klinge aus trübem Metall, einem kurzen Querstück aus demselben Metall und einem Griff aus Rosenholz. Als er freilich genauer hinsah, entdeckte er, dass
Weitere Kostenlose Bücher