Das Magische Messer
mitten in der Luft, durch die sie in eine andere Welt sehen konnten.
Und weil sie sich im oberen Stockwerk eines Turms befanden, standen sie hoch über dem Norden von Oxford, genau genommen über einem Friedhof, den Blick zur Stadt gerichtet. In einiger Entfernung vor ihnen standen die Hainbuchen, dahinter kamen Häuser, weitere Bäume und Straßen und in der Ferne die Türme und Kuppeln der Innenstadt.
Wenn sie nicht schon das erste Fenster gesehen hätten, hätten sie das ganze für eine optische Täuschung gehalten. Nur dass die Erscheinung keineswegs nur optisch war, denn durch das Fenster strömte Luft, und sie rochen Autoabgase, die es in der Welt von Cittàgazze nicht gab. Pantalaimon verwandelte sich in eine Schwalbe und flog durch das Fenster, schwelgte in dem weiten Raum auf der anderen Seite und schnappte nach einem Insekt, bevor er wieder auf Lyras Schulter zurück kehrte.
Giacomo Paradisi sah mit einem merkwürdig traurigen Lächeln zu. Dann sagte er: »So macht man also auf. Jetzt musst du lernen zuzuschließen.«
Lyra trat zurück, um Will Platz zu machen, und der Alte kam neben ihn.
»Dafür brauchst du deine Finger«, sagte er. »Eine Hand reicht. Taste zunächst nach dem Rand, wie du mit dem Messer getastet hast. Du findest ihn erst, wenn du deine Seele in die Fingerspitzen wandern lässt. Suche ganz vorsichtig, taste immer wieder, bis du den Rand findest. Dann drück ihn zusammen. Das ist alles. Versuche es.«
Doch Will zitterte. Er schaffte es nicht, in Gedanken jenes labile Gleichgewicht herzustellen, das er, wie er wusste, brauchte, und wurde immer ungeduldiger.
Als Lyra das merkte, stand sie auf und nahm seinen rechten Arm. »Pass auf, Will, setz dich, und ich sage dir, wie du es machst. Setz dich einen Augenblick, denn deine Hand tut weh und lenkt dich ab. Das kann ja gar nicht anders sein. Aber die Schmerzen lassen bald wieder nach.«
Der Alte hob die Hände, doch dann änderte er seine Absicht, zuckte die Schultern und setzte sich.
Auch Will setzte sich und sah Lyra an. »Was mache ich denn falsch?«
Er war überall mit Blut befleckt, er zitterte, und aus seinen Augen blickte Verzweiflung. Er war mit seinen Nerven am Ende, biss fortwährend die Zähne zusammen, wippte nervös mit dem Fuß und atmete hastig.
»Es liegt an deiner Wunde«, sagte sie. »Du machst überhaupt nichts falsch. Du machst alles richtig, aber die Hand ist deiner Konzentration im Weg. Ich weiß nicht, wie man dieses Problem am besten löst, außer vielleicht dadurch, dass du nicht mehr versuchst die Schmerzen zu verdrängen …«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, jetzt versuchst du in Gedanken, zweierlei zugleich zu tun: die Schmerzen zu verdrängen und das Fenster zu schließen. Ich weiß noch, wie es mir einmal ähnlich ging, wie ich die ganze Zeit Angst hatte, als ich das Alethiometer las. Entspanne dich einfach in Gedanken und sage, ja, es tut weh, ich weiß. Versuche nicht, die Schmerzen zu verdrängen.«
Er schloss kurz die Augen. Sein Atem wurde ein wenig langsamer.
»Also gut«, sagte er dann. »Ich versuche es.«
Und diesmal ging es viel leichter. Er tastete nach der Kante, fand sie und tat, wie Giacomo Paradisi ihn geheißen hatte: Er drückte die Ränder zusammen. Es war die leichteste Sache der Welt. Einen kurzen Moment empfand er eine stille Genugtuung, dann war das Fenster verschwunden. Der Eingang zur anderen Welt war wieder zu.
Der Alte gab ihm eine mit Horn verstärkte Lederscheide, in der Schnallen angebracht waren, die das Messer an seinem Platz hielten, da die Klinge bei der kleinsten seitlichen Bewegung durch das dickste Leder geschnitten hätte. Will steckte das Messer hinein und zog die Schnallen so fest an, wie er es mit seiner verwundeten Hand konnte.
»Dies ist eigentlich ein feierlicher Anlass«, sagte Giacomo Paradisi. »Wenn wir Tage oder Wochen zur Verfügung hätten, würde ich dir alles über das Magische Messer und die Zunft vom Torre degli Angeli und die ganze traurige Geschichte dieser verdorbenen und oberflächlichen Welt erzählen. An den Gespenstern sind wir schuld, wir allein. Sie kamen, weil meine Vorgänger, Alchemisten, Philosophen und Gelehrte, in die innerste Natur der Dinge eindringen wollten. Sie wollten wissen, welche Bindungen die kleinsten Teilchen der Materie zusammenhalten. Cittàgazze war einst eine Handelsstadt, eine Stadt der Kaufleute und Bankiers, wir hielten alles für käuflich, verkäuflich, austauschbar … Doch diesmal irrten wir uns. Wir
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