Das Magische Messer
das Rosenholz mit Golddraht eingelegt war. Erst als er das Messer herumdrehte, erkannte er, was auf dem Griff abgebildet war: ein Engel mit zusammengelegten Flügeln. Auf der anderen Seite des Griffs war ein weiterer Engel mit aus gebreiteten Flügeln zu sehen. Der Golddraht war etwas über die Oberfläche erhaben, was der Hand einen festen Halt verlieh, und als Will das Messer aufnahm, spürte er, dass es leicht, stark und in vollkommenem Gleichgewicht in seiner Hand lag, und er sah, dass die Klinge keineswegs trübe war. Dicht unter der Oberfläche spielte ein Wirbel schattenhaft unbestimmter Farben: verschiedene Töne von Violett, Meerblau, Erdbraun und Wolkengrau, ein tiefes Grün wie unter dicht belaubten Bäumen und ein Grau wie von Schatten am Eingang einer Gruft, wenn sich der Abend über einen verlassenen Friedhof senkt – wenn es so etwas wie Schattenfarben gab, dann auf der Klinge dieses Magischen Messers.
Nur die Schneiden waren anders. Sie waren voneinander verschieden. Die eine bestand aus blitzendem Stahl, der zur Klinge hin mit den geheimnisvoll schillernden Schattenfarben verschmolz, doch Stahl einer unvergleichlichen Schärfe. Will schreckte schon vom bloßen Hinsehen zurück. Die andere Schneide war genauso scharf, aber silberfarben.
»Diese Farbe kenne ich!«, rief Lyra, die Will über die Schulter sah. »Genauso sah die Klinge aus, mit der sie mich und Pan auseinander schneiden wollten – genauso!«
»Diese Schneide«, sagte Giacomo Paradisi und berührte den Stahl mit dem Griff eines Löffels, »schneidet durch jeden Stoff, den es gibt. Seht her.«
Er drückte den Silberlöffel gegen die Klinge. Will, der das Messer hielt, spürte kaum ein Widerstand, und schon fiel der obere Teil des Löffels auf den Tisch, mit einem sauberen Schnitt vom Stil getrennt.
»Die andere Schneide«, fuhr der Alte fort, »hat noch größere magische Kräfte. Mit ihr kann man eine Öffnung schnei den, durch die man diese Welt verlassen kann. Probiere es aus. Tu, was ich dir sage – du bist der Träger. Du musst wissen, wie es geht, und keiner kann dir das sagen außer mir, und ich habe nicht mehr viel Zeit. Steh auf und höre auf meine Worte.«
Will schob seinen Stuhl zurück und stand auf, das Messer locker in der Hand. Ihm war schwindlig und übel, und er empfand Widerwillen.
»Ich habe keine Lust –«, begann er, doch Giacomo Paradisi schüttelte den Kopf.
»Schweig! Du hast keine Lust, du hast keine Lust – du hast keine Wahl! Hör mir zu, denn uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Jetzt halte das Messer vor dich hin – so. Nicht nur das Messer muss schneiden, sondern auch deine Gedanken. Du musst es denken. Und das geht so: Versammle deine Gedanken auf der äußersten Spitze des Messers. Konzentriere dich, mein Sohn. Sammle deine Gedanken. Denke nicht an deine Wunde, sie wird heilen, denke an die Spitze des Messers. Dort bist du jetzt. Jetzt fühle mit ihr, ganz allmählich. Du suchst nach einem Spalt, der so schmal ist, dass du ihn mit deinen Augen nie sehen würdest, aber das Messer findet ihn, wenn du deine Gedanken darauf konzentrierst. Taste dich durch die Luft, bis du den kleinsten Spalt der Welt spürst …«
Will versuchte zu tun, was der Alte sagte, doch sein Kopf sauste, die Schmerzen in seiner linken Hand pochten schrecklich, und er sah wieder seine beiden Finger auf dem Dach liegen, und dann dachte er an seine Mutter, seine arme Mutter … Was würde sie sagen? Wie würde sie ihn trösten? Wie konnte er sie je trösten? Er legte das Messer auf den Tisch, beugte sich über seine verwundete Hand und weinte. Das al les war zuviel für ihn. Heftiges Schluchzen stieg aus seiner Kehle und Brust, und seine Augen schwammen in Tränen, und er weinte um sie, seine arme, verängstigte und unglückliche, geliebte Mutter, er hatte sie verlassen, er hatte sie verlassen …
Er war untröstlich. Doch dann spürte er etwas Seltsames. Er fuhr sich mit dem rechten Handrücken über die Augen und sah, dass Pantalaimon den Kopf auf sein Knie gelegt hatte. Der Dæmon sah in Gestalt eines Wolfshundes mit weichen, mitfühlenden Augen zu ihm auf, und dann leckte er vorsichtig Wills verwundete Hand und legte den Kopf wieder auf Wills Knie.
Will wusste nichts von dem Tabu in Lyras Welt, das die Menschen daran hinderte, den Dæmon eines anderen zu berühren, und wenn er Pantalaimon bisher nicht angefasst hatte, dann nur aus Höflichkeit, nicht weil er von dem Tabu gewusst hätte. Lyra dagegen stockte der Atem.
Weitere Kostenlose Bücher