Das Magische Messer
rückwärts, fiel über Lyra und stürzte auf das Bleidach. Alles geschah so schnell, dass Will gar keine Zeit hatte, Angst zu haben. Dafür sah er, wie das Messer aus der Hand des Mannes auf das Dach flog, sich einige Meter weiter mit der Spitze in das Blei bohrte und bis zum Heft in ihm versank, als sei Blei nicht härter als Butter.
Der junge Mann rollte sofort herum und griff danach, aber Will sprang auf seinen Rücken und packte ihn an den Haaren. Er hatte in der Schule kämpfen gelernt; an Gelegenheiten dafür war kein Mangel gewesen, seit die anderen Kinder be merkt hatten, dass mit seiner Mutter etwas nicht stimmte. Und Will hatte gelernt, dass es dabei nicht darum ging, Punkte für einen guten Stil zu bekommen, sondern darum, den Gegner zum Aufgeben zu zwingen, was bedeutete, dass man ihm mehr wehtun musste, als er einem wehtat. Das wiederum setzte voraus, dass man auch bereit war, jemandem wehzutun, und Will hatte festgestellt, dass nicht viele Menschen das waren, wenn es so weit kam. Aber er wusste, dass er dazu bereit war.
Die Situation war ihm also vertraut, er hatte allerdings noch nie gegen einen fast erwachsenen Mann gekämpft, der mit einem Messer bewaffnet war, und er musste unbedingt verhindern, dass der Mann das Messer jetzt, da es auf dem Bo den lag, wieder in die Hand bekam.
Er schlang seine Finger in die dicken, feuchten Haare des Mannes und riss daran, so heftig er konnte. Der Mann stöhnte und ließ sich zur Seite fallen, doch Will klammerte sich an ihn wie eine Klette, und sein Gegner schrie vor Schmerzen und Wut. Er richtete sich auf und ließ sich nach hinten fallen, so dass er Will zwischen sich und die Brüstung klemmte, und das war zu viel: Will bekam keine Luft mehr und seine Hände lockerten sich. Der Mann schüttelte ihn ab.
Nach Luft schnappend ging Will in der Rinne in die Knie, aber hier durfte er nicht bleiben. Er richtete sich auf den Knien auf und versuchte aufzustehen – und trat dabei mit dem Fuß in eines der rechteckigen Abflusslöcher. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte er, mit beiden Beinen über dem Abgrund zu hängen. Verzweifelt kratzten seine Finger über das heiße Blei. Doch er fiel nicht. Nur sein linker Fuß hing durch das Loch ins Leere, der Rest war in Sicherheit.
Er zog den Fuß wieder herein und rappelte sich auf. Der Mann war bei seinem Messer angelangt, hatte aber keine Zeit mehr, es herauszuziehen, da in diesem Augenblick Lyra auf seinen Rücken sprang und kratzte, trat und biss wie eine Wildkatze; sie bekam allerdings seine Haare nicht zu fassen, nach denen sie sich streckte, und er warf sie ab. Und als er dann aufstand, hielt er das Messer in der Hand.
Lyra war zur Seite gestürzt, Pantalaimon in Gestalt einer Wildkatze mit gesträubten Haaren und gefletschten Zähnen neben sich. Will stand dem Mann direkt gegenüber und sah ihn zum ersten Mal richtig. Kein Zweifel, er war Angelicas Bruder, und er war bösartig. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf Will gerichtet, und in der Hand hielt er das Messer. Aber Will war ein angemessener Gegner.
Er hatte das Seil, das Lyra hatte fallen lassen, aufgehoben und wickelte es sich jetzt als Schutz gegen das Messer um die linke Hand. Dann ging er seitwärts, bis er zwischen dem jungen Mann und der Sonne stand und sein Gegner geblendet die Augen zusammenkniff, zusätzlich irritiert durch die Lichtreflexe von der gläsernen Dachkonstruktion.
Will wartete den Moment ab, in dem der Mann gar nichts mehr sah, dann sprang er mit hoch erhobener linker Hand auf ihn zu, immer dem Messer ausweichend, und trat ihm mit aller Kraft ans Knie. Er hatte sorgfältig gezielt und sein Fuß traf genau. Der Mann stöhnte laut auf, knickte ein und torkelte ungeschickt weg.
Will sprang ihm nach und trat immer wieder zu und trieb ihn weiter zurück auf das Glashaus zu. Wenn er ihn erst am oberen Ende der Treppe hatte …
Diesmal stürzte der Mann noch schwerer hin, und seine rechte Hand schlug neben Wills Füßen auf das Bleidach. Will trat sofort mit ganzer Kraft darauf und quetschte die Finger des Mannes zwischen Messer und Dach ein. Er wickelte sich das Seil fester um die Hand und trat ein zweites Mal zu. Der Mann schrie auf und ließ das Messer los. Sofort stieß Will es mit dem Fuß weg. Zum seinem Glück traf er den Griff des Messers. Es schlitterte über das Dach und blieb in der Rinne neben einem der Abflusslöcher liegen. Das Seil um seine Hand hatte sich wieder gelöst, und von irgendwoher war eine erstaunliche
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