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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Pantalaimon hatte aus eigenem Antrieb gehandelt, und jetzt zog er sich wieder zu  rück und flog als kleinste aller Motten auf ihre Schulter. Der Alte sah interessiert, aber keineswegs überrascht zu. Er hatte schon früher Dæmonen gesehen, denn auch er hatte andere Welten bereist.
    Pantalaimons Trost spendende Geste verfehlte ihre Wirkung nicht. Will schluckte hart, stand wieder auf und wischte sich die Tränen aus den Augen.
    »Also gut«, sagte er, »ich versuche es noch einmal. Sagen Sie mir, was ich tun muss.«
    Diesmal zwang er sich, an das zu denken, was Giacomo Paradisi sagte. Er biss die Zähne zusammen und zitterte und schwitzte vor Anstrengung. Lyra wollte schon unterbrechen, denn sie wusste, was jetzt passierte. Auch Dr. Malone wusste es, und der Dichter Keats, wer immer das war, sie alle wussten, dass man mit Anstrengung nichts erreichte. Aber sie schwieg und faltete nur fest die Hände.
    »Halt«, sagte der alte Mann freundlich. »Entspanne dich. Du darfst es nicht erzwingen. Das ist ein Magisches Messer, kein schweres Schwert. Du hältst es zu fest. Lockere die Finger. Lass deine Gedanken den Arm hinunter zum Hand  gelenk und dann in den Griff wandern und dann die Klinge entlang, ohne Eile, ganz allmählich, ohne Zwang. Lass sie wandern. Dann weiter zur Spitze, wo die Schneide am schärfsten ist, bis du zur Spitze des Messers wirst. Tu jetzt genau das. Wandere zur Spitze und spüre sie, dann komm wieder zu  rück.«
    Will versuchte es wieder. Lyra sah, wie sein ganzer Körper sich anspannte, wie sein Unterkiefer arbeitete und wie dann plötzlich eine große Ruhe über ihn kam, wie er sich beruhigte und entspannte und seine Gesichtszüge sich klärten. Die Ruhe kam aus Will selbst – oder vielleicht von seinem Dæmon. Wie sehr er einen Dæmon vermissen musste! So einsam zu sein … Kein Wunder, dass er geweint hatte, und Pantalaimon hatte ganz richtig gehandelt, auch wenn es sich sehr seltsam angefühlt hatte. Sie hob die Hand zu ihrem geliebten Dæmon, und Pantalaimon sprang in Gestalt eines Wiesels geschmeidig in ihren Schoß.
    Gemeinsam sahen sie zu, wie Will aufhörte zu zittern. Seine Anspannung hatte nicht nachgelassen, doch war es eine andere Spannung, und auch das Messer sah anders aus. Viel  leicht lag es an den schattenhaften Farben der Klinge oder an der natürlichen Art, in der es in Wills Hand lag, aber die kleinen Bewegungen, die er jetzt mit der Spitze machte, wirkten nicht mehr willkürlich, sondern zielgerichtet. Er tastete mit der silberglänzenden Schneide in eine Richtung, dann in die andere, und dann schien er auf eine kleine Unebenheit in der Luft zu stoßen.
    »Was ist das?«, fragte er heiser. »Habe ich es gefunden?«
    »Ja. Aber erzwinge nichts. Komm jetzt zurück, komm wie  der zu dir selbst.«
    Lyra stellte sich vor, sie könnte sehen, wie Wills Seele an der Klinge entlang zu seiner Hand zurückflog und dann seinen Arm hinauf zu seinem Herzen. Will trat einen Schritt zu  rück, ließ die Hand sinken und sah sich verwirrt um.
    »Ich habe etwas gespürt«, sagte er zu Giacomo Paradisi. »Zuerst glitt das Messer durch die Luft, und dann spürte ich etwas …«
    »Gut. Jetzt das Ganze noch einmal. Wenn du diesmal et  was spürst, stecke das Messer hinein und fahre daran entlang. Mache einen Schnitt. Zögere nicht und sei nicht überrascht. Lass das Messer nicht fallen.«
    Will musste in die Hocke gehen, einige Male tief durchatmen und die linke Hand unter den rechten Arm stecken, bevor er weitermachen konnte. Aber weitermachen wollte er jetzt unbedingt. Schon bald stand er wieder auf, das Messer bereits in der richtigen Position.
    Diesmal war es leichter. Er wusste, wonach er suchen musste, da er es schon einmal gespürt hatte, und in weniger als einer Minute hatte er die merkwürdige kleine Unebenheit wieder gefunden. Es war, als suche er mit der Spitze eines Skalpells den Spalt zwischen einem Stich und dem nächsten. Er tastete, zog die Spitze wieder zurück, tastete wieder, um ganz sicher zu sein, und dann tat er, was der Alte gesagt hatte, und schnitt mit der silbernen Schneide nach beiden Seiten.
    Es war gut, dass Giacomo Paradisi gesagt hatte, er solle nicht überrascht sein. So hielt er das Messer sorgfältig fest und legte es zuerst auf den Tisch, bevor er sich seiner Überraschung überließ. Lyra war bereits aufgesprungen und völlig sprachlos, denn vor ihnen in der Mitte des staubigen kleinen Zimmers war ein Fenster wie das unter den Bäumen: eine Öffnung

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