Das Magische Messer
sie.
Angelica ging neben dem Jungen her, zerrte ihn am Arm und drängte ihn weiter. Dicht hinter ihnen folgte aufgeregt kreischend ihr kleiner Bruder Paolo, und auch die anderen Kinder kreischten und hoben ihre geballten Fäuste. Zwei von ihnen schleppten richtige Gewehre. Will hatte schon Kinder in einer solchen Stimmung erlebt, aber noch nie so viele, und die Kinder aus seiner Stadt hatten keine Gewehre.
Sie schrien durcheinander, und Will hörte aus dem allgemeinen Geschrei Angelicas hohe Stimme heraus: »Ihr habt meinen Bruder getötet und das Messer gestohlen! Ihr seid Mörder! Ihr habt ihn den Gespenstern ausgeliefert! Ihr habt ihn getötet und wir töten euch! Ihr entkommt uns nicht! Wir töten euch, wie ihr ihn getötet habt!«
»Mach doch mit dem Messer ein Fenster auf, Will!«, sagte Lyra und packte ihn an seinem gesunden Arm. »Wir könnten doch ganz leicht verschwinden –«
»Und wo kämen wir dann heraus? In Oxford, ein paar Meter von Sir Charles’ Haus entfernt, mitten am Tag. Wahrscheinlich auf der Hauptstraße, direkt vor einem Bus. Ich kann nicht einfach irgendwo durchschneiden und erwarten, das wir gefahrlos durchsteigen können – zuerst muss ich he rausfinden, wo wir sind, und das würde zu lange dauern. Hinter diesem Haus gibt es einen Wald oder ein Wäldchen oder so etwas. Wenn wir uns in den Bäumen verstecken können, sind wir vorerst in Sicherheit.«
Lyra sah wütend aus dem Fenster. »Ich hätte sie gestern umbringen sollen!«, sagte sie. »Sie ist so schlecht wie ihr Bruder. Ich hätte wirklich Lust –«
»Hör auf zu reden und komm«, sagte Will.
Er vergewisserte sich, dass das Messer fest an seinen Gürtel geschnallt war, und Lyra setzte ihren kleinen Rucksack mit dem Alethiometer und den Briefen von Wills Vater auf. Sie rannten durch die Eingangshalle, die das Echo ihrer Schritte laut zurückwarf, dann einen Gang entlang in die Küche und durch die Spülküche in einen gepflasterten Hof dahinter. Eine Tür in der Wand führte in einen Küchengarten, auf dessen Beete heiß die Morgensonne schien.
Der Wald lag ein paar hundert Meter entfernt am oberen Ende eines Grashangs, der keinerlei Schutz bot. Auf einer Anhöhe links, die näher war als die Bäume, stand ein kleines Gebäude, eine Art runder, von Säulen umgebener Tempel mit einem oberen Stockwerk, das wie ein Aussichtsbalkon offen war, da man von dort auf die Stadt sah.
»Lass uns rennen«, sagte Will, obwohl er sich viel lieber hingelegt und die Augen geschlossen hätte.
Sie begannen über das Gras zu laufen, während Pantalaimon über ihnen flog und Wache hielt. Doch der Boden war uneben und das Gras knöchelhoch, und als Will ein paar Schritte gelaufen war, war ihm so schwindlig, dass er nicht weiter konnte. Er verlangsamte seine Schritte.
Lyra sah zurück. Die Kinder hatten sie noch nicht entdeckt. Sie standen noch vor dem Haus, und vielleicht brauchten sie eine Weile, bis sie alle Zimmer durchsucht hatten …
Doch da zwitscherte Pantalaimon alarmiert. Ein Junge stand an einem offenen Fenster im zweiten Stock der Villa und zeigte auf sie. Sie hörten ihn etwas rufen.
»Komm, Will, schnell«, sagte Lyra.
Sie zog an seinem guten Arm und versuchte ihn zu stützen. Er versuchte zu rennen, aber er war zu schwach. Er konnte nur gehen.
»Gut«, sagte er, »zu den Bäumen schaffen wir es nicht mehr. Zu weit weg. Dann gehen wir zu dem Tempel da drüben. Wenn wir hinter uns abschließen, können wir sie viel leicht so lange aufhalten, dass ich doch noch ein Fenster öffnen kann …«
Pantalaimon flog pfeilschnell voraus, und Lyra rief ihm atemlos keuchend zu, er solle langsamer machen. Will konnte das Band zwischen den beiden förmlich sehen, wie der Dæmon zog und das Mädchen mitriss. Er stolperte durch das dichte Gras hinterher, und Lyra rannte voraus und wieder zu rück, um ihm zu helfen, und dann wieder voraus, bis sie die steinerne Plattform um den Tempel erreicht hatten.
Die von Säulen flankierte Tür war nicht abgeschlossen. Sie rannten hinein und kamen in einen kahlen, runden Raum, in dem in Nischen entlang der Wand Statuen von Göttinnen standen. Genau in der Mitte führte eine schmiedeeiserne Wendeltreppe durch eine Öffnung in das Stockwerk darüber. In der Tür steckte kein Schlüssel, um abzuschließen, deshalb kletterten sie die Treppe hinauf auf den Bretterboden des Oberstocks, der nicht viel mehr war als ein Aussichtsplatz, auf dem man die frische Luft genießen und über die Stadt sehen konnte;
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