Das Magische Messer
gelöst und er zog ihn hinter sich her. Als er versuchte die Binde wieder aufzuwickeln, landete die Gans neben ihm auf dem Gras.
»Wer ist das, Lyra?«, fragte Kaisa.
»Das ist Will. Er kommt mit uns –«
»Warum tun die Gespenster euch nichts?« Die Frage des Gänsedæmons war an Will gerichtet.
Inzwischen konnte Will nichts mehr überraschen, und er sagte: »Ich weiß es nicht. Wir sehen sie nicht. Nein, halt!« Er stand auf, denn ihm war etwas eingefallen. »Wo sind sie jetzt? Wo ist das mir nächste?«
»Zehn Schritte hangabwärts«, sagte der Dæmon. »Näher wollen sie ganz offenbar nicht kommen.«
Will zog das Messer heraus und sah in die angegebene Richtung. Er hörte, wie der Dæmon erstaunt zischte.
Doch Will konnte nicht tun, was er beabsichtigte, denn im selben Moment landete neben ihm im Gras eine Hexe auf ihrem Zweig. Er war weniger darüber überrascht, dass sie fliegen konnte, als über die überwältigende Eleganz ihrer Bewegungen, die von kühler Leidenschaft erfüllte Klarheit ihres Blicks und ihre blassen, nackten Arme. Sie wirkte so jugendlich und doch zugleich keineswegs jung.
»Du heißt Will?«, fragte sie.
»Ja, aber –«
»Warum haben die Gespenster Angst vor dir?«
»Wegen des Messers. Wo ist das nächste? Sag es mir! Ich will es töten!«
Aber noch bevor die Hexe antworten konnte, war Lyra bei ihnen.
»Serafina Pekkala!«, rief sie, schlang die Arme um die Hexe und drückte sie so fest an sich, dass die Hexe laut lachte und sie auf den Kopf küsste. »Ach Serafina, woher kommst du so unerwartet? Wir waren – diese Kinder – sie waren Kinder, und sie wollten uns töten – hast du sie gesehen? Wir glaubten schon, wir müssten sterben, und – ach, ich freue mich so, dass du da bist! Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen!«
Serafina Pekkala sah über Lyras Kopf dorthin, wo sich offenbar die Gespenster versammelt hatten. Dann sah sie Will an.
»Passt auf«, sagte sie, »in diesem Wald gibt es, nicht weit weg von hier, eine Höhle. Geht den Hang hinauf und folgt dann der Kuppe nach links. Lyra könnten wir vielleicht eine kurze Strecke tragen, aber du bist zu groß, du musst zu Fuß gehen. Die Gespenster werden uns nicht folgen – uns sehen sie nicht, solange wir in der Luft sind, vor euch haben sie Angst. Wir treffen euch in der Höhle – zu Fuß ist das eine halbe Stunde.«
Sie schwang sich wieder in die Luft. Will beobachtete, wie sie und die anderen Hexen in ihren flatternden Gewändern voller Anmut wendeten und über die Bäume aufstiegen.
»Will, jetzt sind wir in Sicherheit!«, rief Lyra. »Jetzt, wo Serafina Pekkala da ist, ist alles gut! Ich hätte nie gedacht, dass ich sie wiedersehen würde – und sie kam genau zur richtigen Zeit! Wie damals, in Bolvangar …«
Glücklich plappernd, als hätte sie den Kampf schon ganz vergessen, sprang sie ihm voraus den Hang zum Wald hinauf. Will folgte schweigend. Das Pochen in seiner Hand wurde immer schlimmer, und mit jedem Pochen floss Blut aus der Wunde. Er hielt die Hand nach oben vor die Brust und versuchte, nicht daran zu denken.
Sie brauchten nicht eine halbe, sondern ein-dreiviertel Stunden, weil Will immer wieder anhalten und sich ausruhen musste. Als sie die Höhle erreichten, brannte dort ein Feuer, über dem ein Kaninchen briet, und Serafina Pekkala rührte in einem kleinen, eisernen Topf.
»Lass mich deine Wunde sehen«, sagte sie als Erstes zu Will, und er streckte ihr benommen die Hand hin.
Pantalaimon in Katzengestalt sah neugierig zu, aber Will wandte den Blick ab. Er mochte seine verstümmelten Finger nicht sehen.
Die Hexen unterhielten sich leise, dann fragte Serafina Pekkala: »Welche Waffe hat diese Wunde geschlagen?«
Will griff nach dem Messer und reichte es ihr schweigend. Serafinas Gefährtinnen betrachteten es mit misstrauischem Staunen, denn eine Klinge mit einer solchen Schneide hatten sie noch nie gesehen.
»Mit Kräutern allein kann man diese Wunde nicht heilen, dazu braucht es eine stärkere Zaubersalbe«, sagte Serafina Pekkala. » Gut, wir werden eine zubereiten, sobald der Mond aufgeht. Bis dahin sollst du schlafen.«
Sie gab ihm einen kleinen Becher aus Horn, gefüllt mit einem heißen Getränk, dessen Bitterkeit durch Honig gemildert wurde, und schon bald sank er zurück und schlief fest ein. Serafina bedeckte ihn mit Blättern, dann wandte sie sich an Lyra, die noch an dem Kaninchen nagte.
»Jetzt erzähle mir, wer dieser Junge ist«, sagte sie, »und was du
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