Das Magische Messer
hatte inzwischen von dem Geländer, das um die Bodenöffnung lief, zwei Stücke in Schwertlänge abgeschnitten. Eins davon gab er jetzt Lyra. Sie holte aus und schlug damit den ersten Jungen. Er stürzte sofort auf das Dach, doch hinter ihm kam schon das nächste Kind, und es war Angelica mit roten Haaren, weißem Gesicht und irren Augen. Sie kletterte auf den Sims, doch Lyra stieß sie heftig mit ihrer Stange auf die Brust, und sie fiel wieder zurück.
Will tat dasselbe. Das Messer hatte er wieder in die Scheide an seinem Gürtel gesteckt. Er schwang die eiserne Stange durch die Luft und schlug und stach zu. Einige Kinder fielen zurück, doch andere kamen nach, und immer mehr kletterten von unten auf das Dach.
Dann tauchte der Junge mit dem gestreiften T-Shirt auf, allerdings hatte er die Pistole verloren, oder das Magazin war leer. Er und Will sahen einander hasserfüllt an, und beide Jun gen wussten, was als Nächstes passieren würde: Sie würden kämpfen, und es würde ein grausamer Kampf um Leben und Tod sein.
»Komm doch«, sagte Will, begierig zu kämpfen, »komm, los …«
Noch ein Augenblick und sie hätten gekämpft.
Doch dann geschah etwas Merkwürdiges: Eine mächtige, weiße Schneegans rauschte mit ausgebreiteten Schwingen über ihre Köpfe und kreischte so laut, dass sogar die Kinder auf dem Dach sie durch den allgemeinen Lärm hörten und aufsahen.
»Kaisa!«, schrie Lyra glücklich, denn es war Serafina Pekkalas Dæmon.
Die Schneegans kreischte wieder, ein durchdringender Schrei, der den ganzen Himmel erfüllte, dann schlug sie direkt über dem Kopf des Jungen in dem gestreiften T-Shirt einen Bogen. Der Junge duckte sich angstvoll und kletterte über den Sims zurück, und dann begannen auch die anderen Kinder aufgeregt zu schreien, weil noch etwas am Himmel erschienen war, und als Lyra die kleinen schwarzen Gestalten am blauen Himmel näher kommen sah, jubelte sie vor Freude.
»Serafina Pekkala! Hier! Hilf uns! Wir sind hier! Im Tempel –«
Zischend sausten ein Dutzend Pfeile durch die Luft und dann gleich noch ein Dutzend und noch eines, so schnell, dass alle Pfeile zugleich in der Luft waren, und dann schlugen sie donnernd wie Hammerschläge auf das Tempeldach über der Galerie. Die Kinder auf dem Dach darunter waren erstaunt und verwirrt, und alle Kampflust verließ sie, und an ihre Stelle trat Panik: Wer waren diese schwarzgekleideten Frauen, die aus der Luft zu ihnen herabstießen? Wie war das möglich? Waren sie Geister? Eine neue Art Gespenster?
Wimmernd und weinend sprangen sie vom Dach herunter. Einige fielen ungeschickt hin und humpelten dann weg, andere rollten den Hang hinunter und brachten sich unten ei lig in Sicherheit. Auf einmal waren sie kein Mob mehr, sondern nur eine Menge verängstigter Kinder, die sich schämten. Schon bald nach dem Auftauchen der Schneegans sprangen die letzten Kinder vom Dach, und zu hören war nur noch das Rauschen der Luft in den Zweigen der über dem Tempel kreisenden Hexen.
Sprachlos vor Staunen sah Will auf, doch Lyra führte einen Freudentanz auf.
»Serafina Pekkala! Wie hast du uns gefunden? Danke, danke! Sie wollten uns töten! Komm doch herunter …«
Doch Serafina und die anderen Hexen schüttelten den Kopf und flogen wieder höher. Nur der Schneegansdæmon wendete und kam zum Dach herunter. Er schlug mit seinen großen Schwingen einwärts, um langsamer zu werden, dann landete er klappernd auf den Dachziegeln unterhalb des Simses.
»Sei gegrüßt, Lyra«, sagte er. »Serafina Pekkala kann nicht landen und die anderen Hexen auch nicht. Es wimmelt hier von Gespenstern – über hundert umgeben das Gebäude, und weitere schweben über das Gras herauf. Seht ihr sie nicht?«
»Nein, kein einziges!«
»Wir haben bereits eine Hexe an sie verloren. Wir können kein Risiko mehr eingehen. Kommt ihr von dieser Plattform wieder herunter?«
»Wenn wir vom Dach springen wie die Kinder. Aber wie habt ihr uns gefunden? Und wo –«
»Genug. Dies ist nur der Anfang, größere Schrecken er warten uns. Klettert möglichst vorsichtig vom Dach und rennt zu den Bäumen.«
Sie stiegen über den Sims und kletterten seitwärts über die gebrochenen Dachziegel zur Dachrinne hinunter. Die Rinne war nicht hoch, darunter war Gras, und der Boden fiel vom Gebäude aus sanft ab. Zuerst sprang Lyra, dann Will, der sich am Boden abrollte und dabei versuchte, seine Hand zu schützen, die wieder heftig blutete und stark schmerzte. Der Verband hatte sich
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