Das Magische Messer
das Stockwerk hatte weder Fenster noch Wände, sondern bestand lediglich aus umlaufenden offenen Bögen, die das Dach trugen. Jeder Bogen hatte einen hüfthoch gemauerten Fenstersims, breit genug, um sich darauf zu lehnen, und darunter fiel das ziegelgedeckte Dach flach bis zur Dachrinne ab.
Auf der einen Seite sahen sie quälend nah den Wald, auf der anderen etwas unterhalb gelegen die Villa und jenseits davon den Park und dann die rotbraunen Dächer der Stadt, aus denen links der Turm der Engel aufragte. Über seinen grauen Zinnen kreisten Aaskrähen, und Will wurde für einen Moment übel, als ihm klar wurde, was sie angelockt hatte.
Aber sie hatten keine Zeit, die Aussicht zu genießen; zuerst mussten sie mit den Kindern fertig werden, die mit zornigen Schreien auf den Tempel zu rannten. Der Junge, der sie an führte, blieb stehen, hielt die Pistole hoch und feuerte wahllos zwei-, dreimal auf den Tempel, dann rannten sie mit lautem Geschrei weiter.
»Diebe!«
»Mörder!«
»Wir bringen euch um!«
»Ihr habt unser Messer!«
»Ihr seid nicht von hier!«
»Ihr müsst sterben!«
Will beachtete sie nicht. Er hatte das Messer herausgezogen und schnitt ein kleines Fenster in die Luft, um zu sehen, wo sie sich befanden – nur um den Kopf sofort wieder zu rückzuziehen. Auch Lyra sah durch und wich enttäuscht zu rück. Sie standen etwa zwanzig Meter hoch in der Luft über der sehr belebten Hauptstraße.
»Natürlich«, sagte Will bitter, »wir sind einen Abhang hinaufgegangen … Tja, jetzt sitzen wir fest. Wir müssen sie uns irgendwie vom Leib halten, mehr können wir nicht tun.«
Schon bald rannten die ersten Kinder unten durch die Tür. Ihr Geschrei echote durch den Tempel und klang dadurch noch wilder. Dann ertönte ein Schuss von gewaltiger Laut stärke, und dann noch einer, und das Geschrei nahm einen andere Qualität an, und die Treppe erzitterte, als die ersten Kin der sie hinaufstürmten.
Lyra kauerte wie gelähmt an der Mauer, doch Will hielt das Messer noch in der Hand. Er kroch zu der Öffnung im Boden, langte mit der Hand nach unten und schnitt das Eisen der obersten Stufe durch, als sei es Papier. Durch nichts mehr gehalten, begann die Treppe sich unter dem Gewicht der auf ihr stehenden Kinder zu biegen, bis sie endgültig abbrach und mit einem gewaltigen Krach nach unten stürzte. Das Geschrei wurde noch lauter, und das Durcheinander war vollkommen. Wieder löste sich ein Schuss, diesmal offenbar aus Versehen, denn jemand war getroffen worden und schrie vor Schmerzen. Als Will sich hinunterbeugte, sah er ein Chaos aufeinander liegender Körper und Glieder, bedeckt von Putz, Staub und Blut.
Das waren nicht mehr einzelne Kinder, das war eine einzige Masse wie eine Flut, die sich unter ihm wütend auf bäumte, nach ihm griff, schrie, spuckte und ihn verwünschte, ohne ihn erreichen zu können.
Jemand rief etwas, und die Kinder sahen zur Tür, und wer konnte, eilte hinaus. Zurück blieben einige Kinder, die von der eisernen Treppe eingeklemmt worden waren, wie betäubt dalagen oder sich abmühten, von dem trümmerübersäten Boden aufzustehen.
Will begriff bald, warum sie hinausrannten. Vom Dach unterhalb der Bögen hörte er ein Kratzen und Scharren, und als er zum Fenstersims rannte, sah er, wie sich das erste Paar Hände am Rand der Dachziegel festhielt und hochzog. Von hinten schob jemand, und dann tauchten noch ein Händepaar und ein Kopf auf, und immer mehr Kinder stiegen über die Schultern und Rücken anderer Kinder herauf und schwärmten über das Dach wie Ameisen.
Es war allerdings schwierig, auf den mit Dachziegeln belegten Firsten zu gehen. Die ersten Kinder krochen auf Händen und Knien herauf, ihre wilden Augen unverwandt auf Will gerichtet. Lyra war neben ihn getreten, und Pantalaimon hatte in Gestalt eines zähnefletschenden Leoparden die Pfoten auf den Sims gestellt. Die ersten Kinder zögerten, doch hinter ihnen kamen immer mehr nach.
Jemand rief »Tötet sie! Tötet sie! Tötet sie!«, und die anderen stimmten immer lauter in den Sprechchor ein, und die Kinder auf dem Dach begannen rhythmisch zu stampfen, allerdings wagten sie es angesichts des fauchenden Dæmons nicht, näher zu kommen. Dann brach ein Dachziegel auseinander. Der Junge, der auf ihm stand, rutschte aus und stürzte, aber der neben ihm nahm das abgebrochene Stück und schleuderte es auf Lyra.
Lyra duckte sich, und der Ziegel zerbrach an der Säule neben ihr und bedeckte sie mit Scherben. Will
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