Das Mal der Schlange
zugestellt hatte, aber sie erkannte sofort die Schrift auf dem einzelnen Blatt Papier.
`Emmaline`, schrieb Nathaniel, `es steht mir nicht zu, liebste Emmaline zu schreiben, obwohl du das für mich bist, meine Liebste, deshalb lasse ich es einfach weg`, sie musste unwillkürlich lächeln.
`Ich sende dir diesen Brief, weil ich weiß, dass Daniele dir nicht die volle Wahrheit schreibt. Wir hatten vereinbart, dass es besser so ist, um dich nicht unnötig zu beunruhigen, aber ich habe meine Meinung geändert. Die süßen Worte, über die du dich sicherlich freust, kommen tief aus seinem Herzen und er hofft nichts mehr, als dass es seiner Frau und seiner Familie gut geht.
Du bist eine von uns, Emmaline, deshalb kannst du dir sicher die Zerstörung und das Leid vorstellen, das wir sehen, seit wir nach Deutschland gekommen sind.
Der Krieg hat das Land zerrissen und die Menschen hier zahlen einen hohen Preis für den blinden Gehorsam, mit dem sie ihrem Führer direkt in die Hölle gefolgt sind.
Es ist kalt und es gibt nichts zu essen, die Frauen und Kinder hungern.
Auch wir haben Probleme mit dem Nachschub. Viele unserer Kameraden sind krank geworden. Daniele hat Fieber und hustet und ich hoffe, dass es nicht noch schlimmer wird.
In der letzten Woche mussten wir sechs Mann beerdigen, die die Lungenentzündung nicht überlebt haben.
Meine Liebste, nun nenne ich dich doch so, ich kann deinen Mann im Kampf beschützen – obwohl er meine Hilfe dort kaum braucht, denn er ist ein hervorragender Pilot – aber gegen Kälte und Krankheit bin ich machtlos.
Ich habe mir geschworen, dir die Wahrheit nie wieder vorzuenthalten. Deshalb sollst du wissen, dass die nächsten Tage darüber entscheiden werden, ob dein Mann lebt oder stirbt.
Nathaniel`
Sie ließ den Brief sinken und ein Windstoß riss ihr das Blatt aus der Hand. Es wirbelte durch die Luft und landete auf den nassen Stufen der Veranda. Nach und nach verschwamm die Tinte im Regen, bis keines von Nathaniels Wörtern mehr zu lesen war, nur noch dunkle Farbkleckse auf dem Papier, die vom Wasser weiter verwischt wurden.
Sie stand langsam auf und ließ die Decke achtlos zu Boden gleiten.
„ Ich gehe für eine Weile nach Hause“, rief sie tonlos zu Carlo.
Ohne auf Antwort zu warten, trat sie hinaus in den Regen. Apathisch lief sie die ausgestorbenen Straßen entlang und nach kurzer Zeit klebte ihr durchnässter Rock an den Beinen, tropfende Haarsträhnen fielen in ihr Gesicht.
In Trastevere machte sie vor ihrer Haustüre nicht halt, sondern ging weiter die Gasse entlang und über die kleine Piazza hinein in die alte Kirche, Santa Maria in Trastevere.
Erschöpft setzte sie sich auf eine der harten Holzbänke und schloss die Augen. Die nie gekannte Müdigkeit ihrer achtundsechzig Jahre erdrückte sie beinahe. Wasser lief aus ihrem Haar und ihren Kleidern auf den Steinboden. Nach einer Weile hörte es auf.
„ Wir suchen die Kirchen der Menschen nur selten auf“, sagte eine sanfte Stimme hinter ihr, „Für uns zählt nur das Alte Buch, denn dort steht unsere Geschichte geschrieben. Wir glauben nicht an die katholische Lehre, oder an sonst irgendeine andere, deshalb spüren wir in Kirchengebäuden weder Ehrfurcht, noch Trost. Wusstest du das nicht?“
„ Doch, das wusste ich“, Emmaline öffnete ihre Augen nicht, „Deshalb bin ich hierher gekommen. Weil ich an einem Ort sein wollte, der nichts mit unserem Volk zu tun hat, sondern nur mit den Menschen. Ich dachte, hier wäre ich ihm näher.“
„ Das macht Sinn“, sagte Georgianna, „Darf ich mich zu dir setzen?“
Nun sah Emmaline auf und deutete neben sich. Georgianna glitt auf den freien Platz.
„ Ich wusste nicht, dass du noch immer hier bist.“
„ Das war ich auch nicht. Ich bin kurz nach dem Abend bei Massimo abgereist und erst heute wieder gekommen.“
„ Du hast mir den Brief gebracht.“
Auch ohne zur Seite zu sehen wusste Emmaline, dass Georgianna nickte.
„ Was hat er geschrieben?“
„ Daniele ist krank. Nathaniel weiß nicht, ob er überleben wird.“
Georgianna legte ihren Arm um Emmalines Schulter, „Das tut mir sehr leid.“
Emmaline rutschte etwas nach unten, um ihren Kopf an die Schulter der zierlichen Frau lehnen zu können.
„ Wie ist der Brief zu dir gekommen?“
„ Du kennst doch Nathaniel“, sagte Georgianna, „Er findet immer einen Weg. Ich bin mir sicher, er wird schnell wieder Nachricht schicken, sobald es Daniele besser geht.“
`Oder wenn er tot ist `, dachte
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