Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
hinunter. Er wünschte sich nichts mehr, als zu schlafen. Aber das Wichtigste war, dass er geholfen hatte. Er hatte es geschafft. Er wusste selbst nicht, wie, aber das war auch nicht wichtig. Er hatte es geschafft.
»Bist du das, mein Junge?«
»Polina«, sagte der Chirurg, »wir sind fertig. Jetzt reinigen wir noch die Wunden und verbinden ihn …«
»Ich glaube«, sagte sie unsicher, »ich glaube, da war mein Denis …«
»Wo sollte der denn herkommen? Dein Denis schläft. Und jetzt leuchte, bitte.«
Aber sie starrte noch fast eine Minute lang in die Dunkelheit des Flurs, ehe sie sich davon überzeugt hatte, dass sich ihr Sohn tatsächlich nicht dort befand.
Gegen Morgen waren die Verhandlungen beendet und das Feilschen vorüber. Die meisten Männer der Karawane schliefen
zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Fußboden. Die Luft im Saal war so schwer und verbraucht, dass Sergej die Augen tränten und er immer wieder husten musste.
Jedi hatte die »Schokolade« letzten Endes doch erworben, im Tausch gegen Wurst aus echtem Schweinefleisch von der Metrostation Retschnoi Woksal und gegen Patronen. Er war wütend über den Preis, bemühte sich aber, es nicht zu zeigen.
Wassili hatte sich in die hinterste Ecke des Saals zurückgezogen, sich auf dem Boden niedergelassen und war dort, den Kopf gegen die Wand gelehnt, eingeschlafen. Kurze Zeit später hatte sich Jedis jüngerer Sohn zu ihm gesellt und hatte sich, so gut es ging, ausgestreckt, ehe er ebenfalls die Augen schloss. Nur Jedi, sein ältester Sohn, die drei Gemeinderäte, Sergej und die seltsame Frau, die mit der Karawane gekommen war, schliefen nicht. Immer wieder hatte sie angefangen zu weinen – zuletzt aber fast lautlos.
Arkadi Borissowitsch fragte Jedi gierig danach aus, was die Reisenden auf ihrer Reise erlebt hätten und wie das Leben an der Hanse Ref. 4 und an der Polis Ref. 3 aussah. Doch der andere antwortete knapp und widerwillig, denn er konnte sich die eigene Schwäche nicht verzeihen, die er beim Kauf der »Schokolade« offenbart hatte. Es gelang dem Bankier nicht, dem Anführer der Karawane irgendwelche Details oder gar eine farbenprächtige Anekdote zu entlocken.
Sergej, der neben den drei Räten saß, verfolgte ihr Gespräch nicht sonderlich aufmerksam. Seine Gedanken kreisten um die Frau, die ihn so dreist und böse abgewimmelt hatte. Trotzdem spürte er nicht den leisesten Groll gegen
sie. Im Gegenteil, Sergej hatte noch immer Mitleid mit ihr und wollte ihr helfen.
»Wer ist sie?«, fragte er Jedi.
»Eine verrückte Schlampe«, erwiderte der Karawanenanführer kurz angebunden.
Sergej schwieg erwartungsvoll.
»Hat sich vor drei Tagen an uns gehängt«, sagte Jedi. »Wir haben nichts Vernünftiges aus ihr herausbekommen. Gepäck kann sie nicht tragen, davon wird sie müde. Schießen kann sie auch nicht. Die Jungs haben es bei ihr versucht …«, er machte eine unbestimmte Geste mit seiner Pranke, »da hat sie angefangen zu beißen und zu schlagen, einem hätte sie fast die Augen ausgekratzt. Da sind eure Wolfsratten nichts dagegen …«
»Wir wissen nicht, was wir mit ihr tun sollen«, fügte der ältere Sohn hinzu.
Walentin Walentinowitsch blickte Sergej ahnungsvoll von der Seite an und sagte besorgt: »Hör bloß auf, Sergej! Ich sehe schon, dass du etwas ausheckst. Willst mal wieder besonders edel sein, das ist mir schon klar, aber das werde ich nicht zulassen. Keiner in der Kolonie wird das zulassen. Wir können kein zusätzliches Maul stopfen, das weißt du ganz genau.«
»Aber eine zusätzliche Arbeitskraft ist immer gut«, sagte Sergej. »Wie heißt sie?«
Jedi zuckte kaum sichtbar mit den Schultern.
»Sergej, ich warne dich: Wir werden die Ration für deine Familie kürzen!« Walentin Walentinowitsch ließ nicht locker. »Du musst sie auf eigene Kosten durchfüttern! Wir haben ohnehin schon einen unvorhergesehenen Esser, diesen
Verletzten. Der wird vielleicht wenigstens irgendwann mit anpacken. Aber was glaubst du, was so ein Riese wie der frisst!«
»Aber wir müssen etwas tun«, sagte Sergej. »In der Karawane geht sie zugrunde.«
»Die nützt uns genauso viel wie ein altes Weib«, sagte Jedi. »Wenn sie bleiben will, könnt ihr sie haben.«
»Sergej!«, zischte Walentin Walentinowitsch, aber der ging bereits zu der Frau hinüber.
»Wie heißen Sie?«, fragte er.
»Di… Dinara … Dina«, sagte sie schüchtern, aber vollkommen friedlich.
»Ich bin Sergej.« Er warf einen flüchtigen Blick zu den fünf
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