Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
tränten, und er versuchte die Luft anzuhalten, wandte den Kopf hin und her, in der Hoffnung, eine Stelle zu finden, wo der ungeheure Gestank nicht zu spüren wäre.
Er bekam nur vage mit, wie die Verhandlungen verliefen. Die Worte drangen schwach, wie durch eine dicke Watteschicht an seine Ohren. Es wurde offenbar Russisch gesprochen, aber es klang doch seltsam, immer wieder ersetzten Schreie und Gesten einzelne Worte. Tichon sprach mit ruhiger, gleichzeitig fester Stimme und in vernünftigen, wohl abgewogenen Worten, die seine Bereitschaft zu Kompromissen signalisierten. Er erläuterte und ermahnte. Die Höhlenmenschen benahmen sich grob, aber nicht herausfordernd, reagierten störrisch, machten sich lustig und legten eine gewisse Verächtlichkeit an den Tag. Kein Wunder, dachte Sergej, schließlich haben sie nicht um dieses Treffen gebeten, sondern sie wurden eingeladen ! Was sie ganz offenbar als Zeichen der Schwäche ihres Gegners werteten.
Es kam der Moment, als das Gespräch fast schon zu scheitern schien. Einer der Höhlenmenschen erhob die Stimme. Die Luft war auf einmal von Spannung erfüllt. Der Wilde rechts hinter Tichon fasste sein Gewehr fester und senkte den Lauf ein wenig in Richtung der Parlamentäre der Gegenseite. Zu einem Blutbad fehlte nicht mehr viel.
Im gleichen Augenblick legte sich die kleine Handfläche seines Sohnes auf Sergejs Arm und drückte ihn. Sergej blickte zu Denis und sah, dass der Junge die Augen geschlossen hatte und seine andere Handfläche auf Max’ Arm lag. Dann spürte er eine Art leichten elektrischen Stoß, und daran, wie Max zusammengezuckt war, erkannte er, dass es diesem genauso ergangen war.
Einer der Höhlenmenschen sprach einige Sätze in beruhigendem Ton. Sergej hatte das Gefühl, dass auf einmal ein gewisses Zutrauen zum Gastgeber in dessen Stimme mitschwang. Der Talmensch hinter Tichon entspannte sich und ließ den Gewehrlauf sinken. Denis nahm seine Hände nicht von den Armen seiner Nachbarn. Sergej beobachtete seinen Sohn aus den Augenwinkeln und sah, wie sich der zarte Körper des Jungen anspannte und er seine Augen fester zusammenkniff. Dann verspürte er eine ganze Serie von Stößen, schwächere und stärkere. Max ließ sich nichts anmerken.
Der Anführer der Höhlenmenschen brachte jetzt in seiner Sprache und Haltung Wohlwollen zum Ausdruck, sein Gefährte schien ihn darin zu unterstützen. Die Blicke der Wachen wurden merklich weicher. Tichon hatte beiläufig einen Blick zu Denis hinübergeworfen und begann jetzt leichten Druck auf die Gegenpartei auszuüben. Die andere
Seite erklärte sich ohne Diskussion zu einem Kompromiss bereit. Wahrscheinlich, dachte Sergej, hätte Tichon ganz darauf verzichtet, die Brennstoffreserven zu teilen, wenn er das nur gekonnt hätte … Aber irgendetwas hinderte ihn daran … Denis.
Der Junge, der in diesen Minuten zwei Stämme miteinander versöhnte und einen Krieg beendete, versuchte allen gerecht zu werden, damit der schlaue Alte nicht die erzwungene Schwäche der Höhlenmenschen ausnutzte. Denn wenn der Vertrag ungerecht ausfiel, würde es zu einem neuen Krieg kommen, sobald der Zauberbann nicht mehr wirkte. Verstand der Junge mit seinen zehn Jahren das etwa schon, oder handelte er rein intuitiv?
Sergej lauschte überwältigt dem Gespräch zwischen Tichon und den Höhlenmenschen. Die zähen Verhandlungen hatten sich in eine gelöste Unterhaltung zwischen alten Freunden verwandelt, die größtes Verständnis füreinander hegten und daher im Namen der Friedenssicherung zu jedem Zugeständnis bereit waren. Bravo, Denis …
Die Hände des Jungen lagen immer noch auf Sergejs und Max’ Armen. Noch immer sandte er feine elektrische Nadelstiche aus. Er schickte den Verhandlungspartnern jetzt Impulse, die ihre Friedensliebe und ihre Großmut verstärkten.
Sie saßen noch lange so da. Obgleich die Stiche ab und zu regelrecht schmerzhaft waren, schwiegen Max und Sergej und ließen sich nichts anmerken. Angin beobachtete unruhig das Geschehen.
Plötzlich sagte Denis mit heiserem, unkindlichem Flüstern, ohne die Augen zu öffnen: »Das war’s … Bringt mich
weg von hier … Ich kann nicht mehr … Ich schaffe es nicht selbst …«
Sergej zog seinen Arm unter der schweißnassen Hand seines Sohnes weg und erhob sich, ebenso Max und Angin. Sergej musste seinen Sohn auf den Arm nehmen. Die übrigen Anwesenden im Raum – mit Ausnahme von Tichon – schenkten ihrem schweigenden Abmarsch keinerlei Beachtung.
Am Ende
Weitere Kostenlose Bücher