Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
Ferner mussten Wege gefunden werden, um die Baumstämme und später die Einrichtung nach oben zu transportieren. Damals bestand die Dorfbevölkerung nicht nur aus Amazonen – die Männer lebten zu diesem Zeitpunkt noch. Die Männer waren es auch, die die Bauarbeiten ausführten. Es gelang ihnen, das Dorf in der kurzen Zeitspanne zwischen April bis Mitte Oktober in die Höhe zu verlegen und zwischendurch noch Handel zu treiben, sich gegen Wolfsratten
und Pterodaktylen zu verteidigen und für Nahrung zu sorgen.
Nachdem sie ihre Arbeit vollendet hatten, feierten sie eine Woche lang. Doch dann ereilte sie plötzlich ein Unglück.
Einige Männer waren bei den riskanten Bauarbeiten verunglückt: Es hatte Verstümmelungen, Verletzungen und Todesfälle nach Stürzen und Quetschungen gegeben. Die weibliche Bevölkerung ihrerseits hatte in dieser Zeit nicht den geringsten Schaden genommen. Zudem wurden schon damals zunehmend immer mehr weibliche Säuglinge geboren als männliche, und die wenigen männlichen überlebten nur äußerst selten. Nach Verlegung des Dorfes waren einige Expeditionen unternommen worden, in die Stadt, zu den Hügeln und in den Wald. Keiner der Expeditionstrupps war zurückgekehrt. Ohnehin hatte es im Dorf nur noch ganz wenige heranwachsende junge Männer gegeben, aber auch die waren fort.
Seit dieser Zeit mussten die Frauen alleine zurechtkommen. Zum Glück hatten sich die Häuser auf den Masten als äußerst stabil und zuverlässig erwiesen. Alles Übrige hatten sie sich mit der Zeit angeeignet: sich gegen wilde Tiere zu verteidigen, zu schießen, verschiedene Gerätschaften zu bedienen, Techniken zu beherrschen. Sogar Bäume zu fällen und Holz zu machen sowie Pfeile und Bögen anzufertigen.
Nur Kinder zu zeugen vermochten sie nicht. Und jetzt gab es keinen einzigen Säugling mehr.
»Das heißt, es gibt keinen Mann im ganzen Dorf?«, fragte Max.
»Formal gesehen sind es vier«, entgegnete Wera. »Drei, die nicht mehr gehen können und im Lazaretthaus untergebracht sind. Sie bringen nichts mehr zustande und sind alt und krank. Es sind die letzten Überlebenden, die infolge der Umsiedlungsarbeiten verkrüppelt wurden. Und dann gibt es noch einen … Morgen mache ich euch mit ihm bekannt. Ich weiß auch nicht, warum wir den immer noch mit durchfüttern.«
Sergej und Max tauschten Blicke.
Das Abendessen war außerordentlich schmackhaft, die Getränke wohltuend. Den Männern und dem Jungen fielen schon die Augen zu.
»Magst du wirklich nicht hierbleiben?«, fragte Wera Denis.
Der schüttelte den Kopf.
»Wie du willst. Zieht euch an. Schanna bringt euch in euer Quartier.«
Es war dunkel geworden. In Begleitung von fackeltragenden Amazonen machten sie sich an den Abstieg. Die Frauen glitten geschmeidig abwärts, hielten sich mit nur einer Hand fest und erreichten den Boden als Erste. Sie blickten sich sorgfältig nach allen Seiten um, bis die Männer keuchend und umständlich von einer Sprosse zur nächsten hinuntergeklettert waren. Dann marschierten sie zum nächsten Mast. Zwei Amazonen hielten Bögen mit angelegten Pfeilen in den Händen. Plötzlich vernahm Sergej ein bedrohliches Schreien und Pfeifen – die Flügel eines Anglers durchschnitten die Luft, das Tier schoss im Sturzflug auf die Menschen herab. Die zwei Frauen vor ihnen schwenkten augenblicklich die Fackeln in Richtung des Vogels,
währenddessen zogen die beiden Schützinnen die Sehnen ihrer Bögen auf, bis diese zum Zerreißen gespannt waren, ließen den Vogel tiefer kommen und schickten ihre Pfeile dann geradewegs in seinen Körper. Kopfüber taumelnd und aufkreischend stürzte er schwer in den Schnee und klapperte dabei mit seinem riesigen Gebiss.
»Lasst uns schneller gehen«, sagte eine der Frauen.
In der Hütte, in die man sie brachte, war es warm, und es gab mehrere Liegen mit warmen, bequemen Matratzen. Durch ein Fenster in der Decke, das ebenfalls mit etwas Durchsichtigem abgedeckt war, konnte man den Himmel sehen. Die dichten Wolken hatten sich verzogen, und am Firmament leuchteten die Sterne. Sergej war wie verzaubert von ihrem Anblick, starrte in die Höhe und konnte sich nicht losreißen.
»Da oben irgendwo ist jetzt Polina …«, murmelte er.
»Serjoscha, hast du mal darüber nachgedacht, wer unseren Führer heute getötet hat?«, fragte Max. »Ich zerbreche mir den Kopf deswegen. Es waren bestimmt nicht die Amazonen. Die hätten eine andere Verwendung für ihn gehabt.«
»Willst du damit sagen, dass uns jemand
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