Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
geblieben.«
»Um wie viel Uhr ging Ihr Flug?«
»Ich glaube, so gegen Mittag.«
»Haben Sie bei Ihrem Schwager übernachtet?«
»Nein. Wir haben uns nicht so gut verstanden. Da zog ich es vor, woanders zu schlafen.«
»Verzeihen Sie, aber diese Frage gehört zur Routine«, sagte Jacques, »wie haben Sie den Morgen vor dem Abflug verbracht?«
»Brauche ich ein Alibi?« Ibrahim Rossi lachte trocken. Es klang wie ein Hüsteln. »Ich habe bei einer Cousine übernachtet. Sie wird es Ihnen bestätigen. Aber mir wäre es recht, wenn das unter uns bliebe.«
»Sie geben mir Namen und Adresse?«
»Tue ich.«
»Wo waren Sie denn zwischen acht und zehn Uhr?«
»Ich war die ganze Nacht und den Morgen bis zu meinem Abflug mit ihr zusammen. Sie hat mich zum Flughafen gefahren.«
»Was hat sie für einen Wagen?«
»Einen grünen Twingo. Ziemlich altes Gefährt.«
Ibrahim diktierte dem Untersuchungsrichter Namen und Adresse seiner Cousine, falls die Dame eine Cousine war. Und vielleicht würde sie ihm ein falsches Alibi geben.
»Haben Sie irgendeine Ahnung«, fragte Jacques, »wer oder was hinter diesem Mord stecken könnte?«
»Wissen Sie, mein Schwager hatte ein verzwicktes Leben. Da gibt es sicher den einen oder anderen …«
Ibrahim Rossi verstummte.
Jacques wartete.
Ibrahim Rossi schwieg.
Jacques schaute hinaus auf die Straße. Die Franzosen schienen fertig geraucht zu haben. Die meisten waren inzwischen eingestiegen. Ein schwarzer Lieferwagen ohne Fenster setzte sich hinter den Bus.
»Jemand aus dem Umfeld Ihres Schwagers hat gegenüber der Polizei gesagt, zwischen Ihnen beiden hätte es großen Streit wegen Geld, genauer, wegen einer Million auf einem Konto in der Schweiz, gegeben?«
»Er schuldete mir Geld aus einem Geschäft.«
»Man soll eben in der Familie keine Geldgeschäfte machen! Darf ich ein wenig präziser fragen«, sagte Jacques und schlug eine Seite in seinem Dossier auf: »Sagt Ihnen der Name Antoine Delon etwas?«
»Ja, er ist der Partner meines Schwagers im Textilgeschäft.«
»Delon hat ausgesagt, Sie seien vor zwei Wochen in das Büro Ihres Schwagers geplatzt und hätten in Delons Anwesenheit gedroht – das lese ich Ihnen jetzt mal vor: ›Wenn ich die Hunderttausend bis Montag nicht habe, dann lege ich vor deinen Augen deine Tochter um, dann deine Frau, dann dich!‹ Das klingt ziemlich eindeutig.«
Ibrahim Rossi seufzte.
Er überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Das ist jetzt so ein Moment, in dem man eigentlich sagt, ohne meinen Anwalt beantworte ich keine Fragen mehr. Aber wir sind ja nun nicht in Frankreich, und Sie sind auch nur hier, damit wir über meine Nichte Kalila sprechen. Das Geld, um das es geht, hat nur mit Geschäftlichem zu tun. Und meine Drohung? Ich bin jähzornig. Und nicht nur das. Ich hasse meinen Schwager. Na, hassen ist vielleicht ein wenig zu drastisch. Aber ich hatte schon immer meine Probleme mit ihm. Da rutscht schon mal so was raus.«
»Gibt es dafür einen Grund?«
»Vermutlich haben Sie schon einiges über seine Jugend herausgefunden. Er gehörte zu einer – so würde ich es nennen – kriminellen Bande.«
»Sie etwa nicht?«
Ibrahim Rossi schaute Jacques entgeistert an.
»Wie kommen Sie auf diese absurde Idee?«
»Zeugenaussagen. Waren Sie nicht verantwortlich für die Finanzen im Drogengeschäft, das Mohammed damals betrieb?«
»Ich sage noch einmal: absurd! Als ich ihn in seinem Büro aufsuchte, habe ich ihm an den Kopf geworfen, er habe Geld veruntreut, das eigentlich mit meinem Geschäft hier in Marrakesch zu tun hat. Mehr will ich dazu nicht sagen.«
»Vielleicht Schwarzgeld, das gewaschen wurde?«
»Mehr sage ich dazu nicht.«
Jacques überlegte einen Moment und schaute wieder durch die Glaswand der Eingangshalle auf die Straße. Der letzte Franzose stieg in den Bus.
»Dann will ich ein wenig genauer werden«, sagte er mit kalter Stimme. »Wir haben Kalila gefragt, wer denn die Verabredung mit ihrem Vater Mohammed im Wald getroffen hätte. Und sie sagte: der Onkel.«
»Unsinn!«, rief Ibrahim Rossi laut. »Ich habe keine Ahnung, weshalb Mohammed in den Wald von Ville-d’Avray gefahren ist.«
»Kalila sieht das anders. Sie sagt, und das haben wir auf Video aufgenommen, der Onkel habe Mohammed dort hinbestellt. Oder gibt es noch einen anderen Onkel?«
»Nein, ich bin Kalilas einziger Onkel. Aber ich …«
Eine ungeheuere Explosion erschütterte das Gebäude.
Aus dem schwarzen Lieferwagen quoll eine Feuerwalze.
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