Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Rasend schnell dehnte sie sich aus nach oben und über die ganze Straße. Jacques sah draußen nur noch eine einzige Flammenwelle. Zuerst blendend weiß, dann gelb und schließlich blutrot.
Die Drehtür wurde in die Halle katapultiert. Die riesigen Glasscheiben zerbarsten und flogen durch die Luft. Jacques warf sich Schutz suchend neben einen Sessel und riss die Arme über seinen Kopf. Ibrahim Rossi reagierte fast genauso schnell und lag halb über dem Untersuchungsrichter.
Stille.
Nur das Geräusch der Glasstücke, die auf den Steinboden niederregneten.
Der Körper von Ibrahim Rossi lag schwer auf ihm. Er rührte sich nicht.
Feuer prasselte.
Jacques kroch hinter dem Sessel hervor, blickte sich vorsichtig um und stand auf.
So als wäre er nur gestolpert, rief ihm die Dame vom Empfangstisch zu: »Haben Sie sich verletzt? Geht’s?«
Nicht einmal ihre Frisur war verrutscht.
Dort, wo der Lieferwagen gestanden hatte, gähnte ein drei Meter breites und fünfzig Zentimeter tiefes Loch. Das Dach des Wagens lag zwanzig Meter weit weg. Die Druckwelle hatte den Motor sogar noch weiter fliegen lassen. Von dem Bus, in den die Franzosen gestiegen waren, blieb nur ein Gerippe übrig, in dem verbrannte Leichenteile hingen. Die Druckwelle hatte ihn hochgehoben, und jetzt lag er quer über der Straße.
Jacques stand hilflos in dem Trümmerfeld, als Ibrahim Rossi neben ihn trat.
»Haben Sie etwas abbekommen?«, fragte er.
»Nein, ich glaube nicht. Und Sie?«
»Auch nicht. Ich glaube, es ist am besten, wenn wir jetzt gehen. Wir können nichts tun, um zu helfen.«
»Ich möchte eher warten, bis die Polizei kommt«, sagte Jacques.
»Wir sind in Marokko und nicht in Paris. Nehmen Sie meinen Rat an, Monsieur le Juge.« Ibrahim Rossi zog ihn leicht am Arm mit. »Mit der Obrigkeit wollen auch Sie hier nicht unbedingt etwas zu tun haben, solange es nicht sein muss. Morgen können Sie immer noch sehen …«
Einige kleine Feuer brannten noch auf der Straße. Die Fensterscheiben der Gebäude im Umkreis von hundert Metern waren geborsten. Glas lag auf der Straße. Einige Wagen waren verkohlt. Erste Helfer trafen ein und bemühten sich um Verletzte.
Jacques zögerte kurz, dann schloss er sich dem Ingenieur an, der sofort um die nächste Ecke bog, wo die Welt schon wieder heil zu sein schien und wo nur die Sirenen von Feuerwehr, Krankenwagen und Polizei heulten. Ihm war klar: Das Attentat hatte den Franzosen im Bus gegolten. Aber warum? Er konnte sich keinen Reim daraus machen.
»Wo wohnen Sie?« Ibrahim Rossi bot Jacques an, ihn zu seinem Hotel zu führen, aber Jacques dankte. Er müsse sich jetzt einen Moment in Ruhe sammeln. Sie trennten sich an der hohen Stadtmauer. Jacques setzte sich in einem Park auf eine Bank und holte sein Handy hervor. Er hatte einen Anruf erhalten, aber den Klingelton nicht gehört. Es war die Nummer von Jil. Sie hatte keine Nachricht hinterlassen. Er rief zurück. Sie nahm das Gespräch sofort an.
»Jacques, hast du die Explosion gehört? Die kam aus deiner Ecke!«, sagte sie aufgeregt.
Er erzählte ihr nur, was er erlebt hatte. Darüber, was er im Bus gesehen hatte, konnte er nicht mit ihr reden. Ich komme jetzt nach Hause, sagte er, und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Nach Hause?
Er wählte die Nummer von Kommissar Jean Mahon in Paris, der nahm sofort ab. Jacques schilderte, was geschehen war, und bat Jean, die offiziellen Stellen in Paris zu unterrichten.
»Wenn der Bus mit den Franzosen das Ziel war«, sagte Jean Mahon, »dann sollten wir sofort ein Team zur Untersuchung schicken. Ich werde das anregen. Bleibst du in Marrakesch?«
»Mal sehen. Ich weiß nicht, was ich hier noch soll. Ibrahim Rossi scheint ein Alibi zu haben. Ich maile dir einen Namen und eine Adresse. Angeblich hat er bei einer Cousine übernachtet und damit ein Alibi. Das könntet ihr schon einmal recherchieren.«
»Cousine ist eigentlich ziemlich altertümlich als Ausrede«, sagte Jean, »heute sagt man doch, meine Sadomasotrainerin oder so …«
Jacques atmete tief durch. »Jean, ich kann jetzt wirklich nicht lachen! Aber noch etwas fällt mir ein. Ich habe Ibrahim Rossi mit der Aussage Kalilas konfrontiert, die ja doch gesagt hat, der Onkel habe Mohammed zur Verabredung in den Wald von Ville-d’Avray bestellt. Er hat es vehement geleugnet. Und er sagt selbst, es gebe keinen anderen Onkel in der Familie. Aber einer Sechsjährigen bringt man ja auch bei, andere Männer mit Onkel anzusprechen. Auf gut Glück solltest
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