Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
vorgehen.«
Genau um sechs Uhr früh hatte Kommissar Jean Mahon in dem berühmten Mittelmeerort Fréjus an der von süß duftenden Glyzinien umrankten Haustür von Louis de Ronsards Villa geklingelt. Als sich niemand regte, klingelte er noch einmal, sogar ein drittes Mal, dann gab er den Befehl, die Tür aufzubrechen.
Im Bademantel kam Ronsard die Treppe aus der oberen Etage so schnell herunter, dass er fast stolperte. Als er die Polizisten in Uniform sah, fragte er brüllend, welcher Richter ihnen den Durchsuchungsbefehl unterschrieben hätte. Aber ohne auf eine Antwort zu warten, fügte er hinzu: »Wer immer es ist, ich scheiß auf ihn!«
Die sechs Polizisten, die Jean Mahon mitgenommen hatte, waren in die verschiedenen Ecken des Hauses ausgeschwärmt, um sicherzustellen, dass niemand im Haus versuchte, Beweismaterial zu vernichten.
Auf dem Treppenansatz erschien eine junge Frau, die nicht aussah wie Ronsards Ehefrau. Sie hielt einen zu großen Morgenmantel mit beiden Händen vor der Brust zusammen. Als sie von Ronsard wissen wollte, was denn los sei, schrie er sie an: »Geh zurück ins Bett. Die Stasi ist da.«
Schon nach einer halben Stunde war Kommissar Jean Mahon klar, dass sie einen großen Fund gemacht hatten. Offenbar war Ronsard von der Idee besessen, dass ein Mann der Macht unverwundbar ist und hatte keine Unterlagen, die ihn belasten würden, aussortiert oder versteckt. Ein Polizist machte Kommissar Jean Mahon auf eine Reihe von Ordnern aufmerksam. Konten Genf, Konten Paris, Konten Italien. Verträge Pakistan, Verträge Saudi-Arabien, Verträge Marokko. Budget Partei.
Unter dem Schreibtisch stand ein kleiner Tresor, dessen Tür nur angelehnt war. Wie blöd kann man sein, dachte der Kommissar. Vielleicht hat er vorhin erst Geld geholt, um das Mädchen zu bezahlen. Neben großen Stapeln von Fünfhunderteuroscheinen, mehrere Hundertausend Euro, schätzte Jean Mahon, lag eine Handkladde. Mit Bleistift hatte Ronsard in schöner Handschrift eingetragen, wann Mohammed aus Genf Beträge abgeholt und wem übergeben hatte.
Jean Mahon setzte sich an Ronsards Computer, der nicht runtergefahren war, und schaute sich die letzten Bewegungen an. Mail-Verkehr mit einem Chefarzt des Militärkrankenhauses Val-de-Grâce. Meldungen über den Gesundheitszustand von Hariri. Ein paar Tage zuvor ein brisanter Mail-Verkehr mit dem Chef der Luftwaffe. Ronsard spielte sich wie ein amtierenderer Minister auf: Der General solle dafür sorgen, dass der im Atlasgebirge verunglückte Hariri sofort mit einer Militärmaschine nach Paris geflogen werde. Und der Chef der Luftwaffe gehorchte. Einmal Minister heißt immer Minister. Man weiß ja nie, wann die Regierung wechselt und er wieder ins Amt kommt.
An einem weißen Kabel war auf einem kleinen Tischchen an der Wand ein Handy zum Laden angeschlossen. Jean Mahon nahm es und schaute sich die Liste der zuletzt gewählten Nummern an. Einige Politiker, die er kannte. Und erstaunt notierte er, dass offenbar Chefredakteur Jean-Marc Real eines Abends angerufen und ein längeres Gespräch mit Ronsard geführt hatte. Chefredakteur Jean-Marc Real. Der Chef von Margaux. Das wird Jacques besonders freuen. Den könnte der Untersuchungsrichter vorladen und sich für den bösartigen Artikel seiner Ex rächen.
Die letzte Kurzmitteilung war mitten in der Nacht eingegangen. Jemand hatte sie von einem anderen Handy weitergeleitet. Ronsard hatte sie noch nicht geöffnet. Der Kommissar las sie, aber sie sagte ihm nichts.
Gegen Mittag luden die Polizisten dreißig Kartons mit Beweismaterial, Aktenordnern, Computern, iPads, Mobiltelefonen in ihre Wagen. Der Kommissar klopfte an der Tür des Schlafzimmers, das Ronsard und die junge Frau nicht mehr verlassen hatten. Ronsard schrie: »Ich habe euch Schweinebande nichts zu sagen. Leckt mich! Arschlöcher.«
Gelassen rief der Kommissar durch die Tür: »Können Sie bitte die Bestätigung unterschreiben, dass wir …«
Aber weiter kam er nicht. Ronsard riss die Tür auf, richtete einen Revolver auf den Kommissar und schrie: »Raus, raus, raus!«
Der Mann schien vergessen zu haben, dass er vor kurzem noch »Erster Bulle im Lande« gewesen war. »Erster Bulle im Lande« wird im Volksmund der Innenminister genannt, denn er ist Chef der Polizei. Deshalb hätte er wissen können, dass der Kommissar zwei seiner Leute rechts und links neben der Tür postieren würde. Sie packten Ronsard, entwanden ihm den Revolver und legten ihm Handschellen an.
»Sie sind
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