Das Matrazenhaus
Kovacs. Er müsse ihr im Übrigen noch etwas sagen.
»Was?«
»Charlotte kommt.«
»Charlotte? Wann?«
»Morgen, fürchte ich.«
»Morgen?! Na wunderbar!« Dann gehe sie davon aus, dass bitte er sich für das Wochenende, das ihrer Erinnerung nach gemeinsam geplant gewesen sei, etwas einfallen lasse. Wobei sie ihn darauf aufmerksam mache, dass sie Charlotte bisher nur von Fotos kenne und man ja wisse, wie sich das mit den Töchtern geschiedener Väter und deren neuen Lebensgefährtinnen so verhalte. Kovacs spürte plötzlich einen kleinen Lachanfall in seinem Inneren hochsteigen, ohne zu wissen, woher er kam. »Du könntest ja fischen gehen«, sagte er, bevor er losprustete, »ich borge dir das Boot.« Sie legte auf.
Kovacs goss Tee ein. Während er sich ein Butterbrot schmierte, stellte er sich vor, wie Marlene ihre Strumpfhose fertig anzog, ihr Haar kämmte und ununterbrochen kleine, wütende Sätze von sich gab. Ich bin ein miserabler Vater, dachte er, und ich liebe diese Frau.
Er ging die Walzwerksiedlung entlang in Richtung Zentrum. Der Morgenverkehr hatte noch nicht eingesetzt. Ich fühle mich wie ein Streifenpolizist, dachte er, wie die operative Seite von Recht und Ordnung. Er lebte gern in diesem Viertel, auch wenn die integrative Grundidee des Walzwerk-Projektes nicht wirklich funktionierte. In den drei ehemaligen Werkshallen protzten Bobos zwischen fünfundzwanzig und vierzig, die zumeist irgendeinen vorwiegend sentimentalen Bezug zum Proletariat hatten, mit ihren Lofts und Dachgeschoßwohnungen, und in den ehemaligen Arbeiterquartieren lebten die Underdogs: Sozialhilfeempfänger, Migrantenfamilien und alleinerziehende Mütter mit ausnahmslos der gleichen Geschichte: Alkohol, Prügel, wenn du dich scheiden lässt, siehst du mich nie wieder, Alimentationsbevorschussung. Die einen ließen jede Woche eine neue Alarmanlage oder Überwachungskamera anbringen und die anderen kickten ihnen die Außenspiegel von den Autos. Kovacs selbst legte Wert darauf, nirgendwo dazuzugehören. Aufgrund seines Berufes genoss er bei allen Bewohnern der Siedlung Respekt, auch bei den Vertretern des türkischen Untergrunds, die eben deshalb einen gewissen Abstand hielten, und da er seine Wohnung in Halle B knapp nach Eröffnung des Projekts gekauft hatte, als die Preise noch moderat und die Schnösel mit ihren freistehenden Philippe-Starck-Badewannen und Vietnam-Urlauben noch weit weg gewesen waren, war er ganz eindeutig auch keiner von denen.
Der junge Mann, der vor ein paar Stunden am Brunnenbecken geschlafen hatte, war verschwunden und lag jetzt vermutlich im Bett. Was war Cinn? Eine Art Bio-Crack? Oder bloß gemahlene Zimtrinde, wie manche behaupteten? Cinn von Cinnamon? Die Suchtmittelszene machte Kovacs Sorgen. Der Sheriff behauptete zwar, die Sache im Griff zu haben, wirkte jedoch seit einiger Zeit nervös. Jemand anderer spannte seine Fäden in den Markt, und keiner hatte eine Ahnung, wer es war. Es hatte in Privatwohnungen begonnen, mit Kokain, das besonders sauber und zwanzig Prozent billiger war als üblich. Veranstaltungen waren gefolgt, Raves und die größeren Geburtstagsfeste und Partys. Neben dem Kokain waren dort verschiedene Ecstasy-Varianten aufgetaucht, kreisrunde Klassiker, grün mit Clownkopfprägung oder lila Rhomben mit winzigen Elefanten vorne drauf. Die Leute von Check-It waren von der Qualität oder vielmehr von der chemischen Darstellbarkeit der Wirksubstanzen, wie sie es nannten, begeistert gewesen, und der Sheriff hatte aufgerüstet. Es gab kein Fest mehr, bei dem nicht seine Leute den Saaldienst stellten, er hatte Augen und Ohren überall, und dennoch war der fremde Stoff da, jedes Mal, wie aus dem Nichts. Keyser Soze stecke dahinter, hieß es manchmal, der blutige Rächer aus den Üblichen Verdächtigen . Der Sheriff fand das gar nicht lustig.
Der Schranken senkte sich, knapp bevor Ludwig Kovacs den Bahnübergang erreichte. Ein schlechtes Omen, dachte er und schämte sich zugleich für seine Neigung zum Aberglauben. Er stieg über den Balken und überquerte die Geleise. Eine Frau mit grauer Igelfrisur blickte ihn aus ihrem Fiat böse an. Er nickte ihr freundlich zu. Trampel, dachte er, ich bin die Polizei. Als er das Stift passierte, begegnete er einer Gruppe von Benediktinermönchen. Einen von ihnen erkannte er; Joseph Bauer. Man sagte, der Mann sei völlig durchgeknallt. Unter anderem höre er Musik über seinen iPod, während er die Messe zelebriere. Das diene dazu, seine
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