Das Matrazenhaus
Kenntnis begonnen.«
»Kann sein. Und weiter?«
»Keine Ahnung.«
»Bitte, nehmen Sie zur Kenntnis, dass Ihre Einflussmöglichkeiten an diesem Punkt enden, Ihr Sohn nach den Bestimmungen des Unterbringungsgesetzes behandelt wird und die entscheidungsbefugte Einrichtung ab sofort das Bezirksgericht Furth ist. Bis morgen, auf Wiedersehen, es ist vier Uhr früh«, sagte Günther. Leonie Wittmann bedankte sich mit einem Kopfnicken. »Genau das habe ich gesagt.« Die Frau sei hinausbegleitet und der Sohn versorgt worden, sagte sie, sie selbst sei gleich dageblieben, heimfahren habe sich nicht mehr ausgezahlt.
»Und was steckt hinter der Geschichte?«, fragte Horn. »Eine lange Verzweiflung«, sagte sie, »wie immer. Wer hängt sich schon mit zwanzig an die Zimmerdecke? – Jemand, den das Leben zu einem frühen Tod verurteilt hat. Er spürt es und irgendwann hört er auf, sich zur Wehr zu setzen.« Horn sagte nichts. Er stellte sich vor, wie Leonie Wittmann in ein Zimmer kam, in dem ein junger Mann von der Decke hing, wie sie völlig unaufgeregt an ihn herantrat, ihn an den Hüften umfasste, hochhob und so lange hielt, bis ein anderer ihm die Schlinge vom Kopf streifte. Er stellte sich vor, wie sie ihn vorne an ihrem Körper herabgleiten ließ, bis ihre Arme unter seinen Achseln lagen, wie sein Kopf mit halboffenen Augen auf ihre Schulter sank und wie sonnenklar war, dass man da nichts mehr machen konnte. Deswegen wollte ich sie haben, dachte Horn, weil sie so etwas kann: Menschen aus der Schlinge heben.
Horn hatte es keine Sekunde bereut, dass er diese kleine Frau, die bereits im Vorstellungsgespräch auf eine bemerkenswert kratzbürstige Art darauf bedacht gewesen war, nichts aus ihrem Privatleben preiszugeben, zur Anstellung empfohlen hatte. Jetzt war ein Dreivierteljahr vergangen und sie wussten nach wie vor ganz wenig über Leonie Wittmann – dass sie ihre Ausbildung teils an einer forensischen Fachklinik in Hamburg, teils an einer Jugendpsychiatrie in Wil in der Ostschweiz gemacht hatte, dass sie geschieden war und einen Graupapagei namens Schopenhauer besaß, der angeblich ganze Absätze aus Die Welt als Wille und Vorstellung zitieren konnte. Manche behaupteten, sie sei Psychoanalytikerin, und andere sprachen von einer Tochter, die in Wien Bildhauerei studiere und große Plastiken aus Verpackungsmüll herstelle. Zu beidem hatte es noch keine verlässliche Überprüfung gegeben. Außerdem stelle ich mir keinen Mann zu ihr vor, dachte Horn.
»Was tut er jetzt?«, fragte er. Leonie Wittmann war verwirrt: »Was tut wer?«
»Dieser Marcus. Was tut er?«
»Er schläft«, sagte Hrachovec, »ich habe ihm eine Infusion mit ein paar Ampullen Diazepam gegeben. Zack – er ist sofort umgekippt.« Hrachovec wischte sich die Reste seines Croissants vom Hemd. Zack, dachte Horn – es gibt eine Zeit in der Psychiatrieausbildung, da brauchst du diese Gewissheit, die Dinge im Griff zu haben, die sich am unmittelbarsten dadurch vermittelt, dass du die Menschen schlafen legst. Eine Spritze, eine kleine Infusion, oder, wenn’s unkompliziert läuft, ein paar bittere Tropfen, und schon schnarchen sie dir unter den Händen weg. Wenn Hrachovec Nachtdienst hatte, schlief am nächsten Morgen die halbe Station. Lisbeth Schalk und manche Schwestern mokierten sich darüber. Horn hatte beschlossen, es zu übergehen. Als Psychiater war man auch Narkosearzt, ganz einfach. Hrachovec war inzwischen ein ganz ordentlicher psychiatrischer Narkosearzt; er dokumentierte gut, dosierte richtig, und wenn die Leute dann erwachten, war in der Regel das Ärgste vorüber. Reden muss er noch lernen, dachte Horn manchmal, aber das ist am schwierigsten.
»Allfälliges«, sagte er und beendete die Morgenbesprechung, indem er zuerst eine Verlautbarung der Direktion verlas, die auf Diebstähle innerhalb des Krankenhauses hinwies und die Mitarbeiter aufforderte, ihre Diensträume nach Verlassen abzuschließen, danach die Ankündigung einer wissenschaftlichen Tagung zu neuen Methoden in der Behandlung von Essstörungen. Keiner wollte hin, aber das lag weniger am Thema, sondern eher daran, dass die Sache in Innsbruck stattfand. Nach Innsbruck wollte nie jemand fahren; nach Salzburg ja, nach Graz auch, ins Ausland sowieso; sogar nach Linz fuhren die Leute. Möglicherweise hatte es mit den Bergen zu tun, die in Furth genau wie in Innsbruck vor der Haustür lagen. Nach Innsbruck fuhren die Wiener, die Hamburger und die Kollegen aus Ungarn. Sie alle fanden
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