Das Matrazenhaus
an die Art, in der Irene manchmal über ihr Cello sprach, herzlich und vertraut wie über nichts und niemanden sonst. Er fühlte sich dann immer fremd und unendlich fern, und es war, als sei ihr dunkles neapolitanisches Instrument alles, was sie besaß, als gebe es auf der Welt nichts anderes, nicht ihn, nicht Tobias und Michael sowieso nicht.
Zwei Stunden später hatte Herbert die Bezugsbetreuung des jungen Gitarristen übernommen, Leonie Wittmann hatte mit Raimund über Aggression als projektives Phänomen gesprochen, speziell über die Notwendigkeit, sich von Sabrina fernzuhalten, und Hrachovec hatte ruck, zuck den Entlassungsbrief für Fehring fertiggestellt, in dem dezidiert festgehalten wurde, der Patient habe zum wiederholten Male seinen Aufenthalt gegen ärztliches Anraten vorzeitig beendet. Raffael Horn war zuerst mit dem Therapeutenteam in die Cafeteria gegangen, hatte sich in der Folge von einem Finanzbeamten mit Bakteriophobie die Gemeinheiten der Menschen erklären lassen und danach die Dosis seines Anxiolytikums erhöht und saß jetzt Dorothea Müllner gegenüber, einer rundlichen pensionierten Damenwäscheverkäuferin, die im Rahmen ihres paraphrenen Syndroms immer wieder uniformierte Männer herbeihalluzinierte. Diesmal seien es zwei gewesen, erzählte sie, einer mit einem Backenbart wie Kaiser Franz Joseph und ein etwas jüngerer, der eine schwarze Augenklappe getragen habe. »Wie Mosche Dayan«, sagte Horn. Frau Müllner war überrascht. »Woher wissen Sie das?« Horn zuckte mit den Schultern. »Geraten«, sagte er, »Wotan hätte nicht gepasst.«
»Welcher Wotan?«
»Eben.«
Es waren historische Figuren, dachte er, ein Kaiser, ein israelischer Verteidigungsminister, vielleicht erklärte das etwas. Dorothea Müllners Mann hatte eine Werkskantine geleitet und war vor Jahren an einer Aortenblutung verstorben. Er war ein leidenschaftlicher Entomologe gewesen und hatte Tausende Käfer hinterlassen, alle in Glaskästen, alle fein säuberlich aufgespießt. Er hatte manchmal tagelang kein Wort gesprochen. Ansonsten wusste er nichts aus Dorothea Müllners Geschichte, überlegte Horn, nicht einmal, ob sie Kinder hat. In diesem Augenblick läutete das Telefon. Sie störe nicht gerne, entschuldigte sich Linda, die Ambulanzschwester, aber Kurt Frühwald habe schon zum dritten Mal angerufen. Er sei sehr aufgeregt und berichte von einem epileptischen Anfall seiner Frau und davon, dass sie plötzlich total wesensverändert sei, geradezu außer sich. Erstmals seit Jahren fühle er sich überfordert. Er bitte dringend um einen Rückruf. Und außerdem seien soeben ein paar Leute eingetroffen, die zu ihm wollten; er wisse angeblich davon. Vorhin hat etwas gefehlt, dachte Horn, er war nicht draufgekommen. Es seien zwei Frauen, eine spreche nur Ungarisch, die andere sei von der Polizei. Eine leichte Fläue legte sich in Horns Magen. Zugleich war er mit einem Mal sicher, dass Dorothea Müllners Vater Polizist gewesen war. Die beiden Frauen hätten übrigens ein Kind bei sich, sagte Linda. In diesem Moment überlief es ihn heiß.
Ein Kämpfer mit einer Drachenflasche, dachte Horn, als er den Buben sah – irritiert und wachsam. Außerdem dachte er, dass er selbst Termine vergaß und laut vor sich hin sprach und dass demnächst die Leute über ihn Alzheimer-Witze erzählen würden. Die junge Frau mit den kastanienbraunen Haaren streckte ihm freundlich die Hand entgegen. Sie heiße Sabine Wieck, sei von der Kriminalpolizei, und er brauche sich nicht zu entschuldigen, man könne sich vorstellen, dass er viel um die Ohren habe. Da er am Vortag nicht aufgetaucht sei, habe man gedacht, es sei besser, die Sache umzudrehen, und sie sei kurzerhand hergefahren. Seine Sekretärin habe ihr am Telefon gesagt, er befinde sich im Haus. Die Fahrt mit dem Streifenwagen habe dem Buben Spaß gemacht, und schließlich gehe es auch nicht um ein Kapitalverbrechen.
Etwas Schwarzes schlägt ein Kind, dachte Horn, darum geht es. Manche Dinge merke ich mir.
Ilona sei das Kindermädchen, sagte die Polizistin, sie sei erst am Vorabend aus Budapest angereist, eine Konsequenz aus den Ereignissen. Ilona war klein, stämmig und vermutlich Mitte zwanzig. »Wie verständigen sich die beiden?«, fragte Horn. »Bis jetzt gar nicht«, sagte die Polizistin, aber da Felix zweisprachig aufwachse, werde Ungarisch wohl funktionieren.
»Magst du sie?«, fragte Horn. »Nein«, sagte der Bub.
Horn versuchte dem Kindermädchen mit Gesten
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