Das Matrazenhaus
spreche man vor allem über Musik, und Lefti erwiderte, irgendetwas sei anders gewesen.
Die inneren Lagen der Mullbinde waren fest mit Kovacs’ Haut verklebt. Szarah goss Pfefferminztee in eine Schale, prüfte die Temperatur, tränkte eins der Baumwolltücher und presste es auf die Krusten. Nach einer Weile ließ sich die Binde halbwegs leicht abziehen. »Ich schätze, der Sache hätten ein paar Nähte ganz gutgetan«, sagte Lefti. Kovacs versuchte mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand, die Ränder des Risses aneinanderzulegen. »Ja, ungefähr so«, sagte Lefti. »Am Tag danach funktioniert das Nähen nicht mehr, oder?«, fragte Kovacs.
»Zumindest behaupten das die Ärzte.«
Szarah tropfte Pfefferminztee in die Wunde. »Man soll den Ärzten glauben, Kommissar«, sagte sie. Nein, dachte Kovacs, man soll den Ärzten nicht glauben. Dann fiel ihm Patrizia Fleurin ein, die Gerichtsmedizinerin, die für den Bezirk zuständig war. Ihr glaubte er ab und zu – zumindest wenn sie etwas über tote Menschen sagte. In der schmalen, vielleicht zehn Zentimeter langen Kluft in seiner Haut hatte sich ein gelbgrüner See gebildet. Kovacs stellte sich ein Boot darauf vor und am Grund des Sees einen Döbel, der auf Beute lauerte. An manchen Tagen gibt es in meiner Welt nichts als Räuber und Betrüger, dachte er. Schuld seien Demski mit seiner vertrottelten Kindesmissbrauchsfixierung und Mauritz, der endlich ein paar Kilo abnehmen solle, sagte er. Genau genommen sei in Wahrheit auch seine Tochter schuld, was jetzt vielleicht ein wenig seltsam klinge, aber an sie habe er vor dem Unfall die ganze Zeit denken müssen. »Und es waren keine guten Gedanken?«, fragte Szarah. Kovacs gab keine Antwort. Er blickte seitlich den eleganten Schwung ihrer Wimpern entlang auf die winzige Narbe an ihrer Nasenwurzel und fragte sich, ob es anderen Leuten auch passierte, dass sie sich nicht freuten, wenn ihnen ihre Kinder in den Sinn kamen. Mauritz sei der beste Spurensicherungsbeamte, den er in seiner Laufbahn erlebt habe, sagte er nach einer Weile – detailverliebt bis zum Gehtnichtmehr, auch dann noch gelassen, wenn rund um ihn alles einstürze. Selbst in der größten Öde sei er immer noch imstande, einen phantasievollen Gedanken aus seinem Hirn zu zaubern. Privat sei er Ehemann einer blassen, dünnen Sozialarbeiterin, die in der Stadt die mobile Altenbetreuung koordiniere, seit einem Dreivierteljahr Vater eines kleinen Nikolaus und im Übrigen ein ausgezeichneter Tischtennisspieler. »Bedingungslos offensiv«, sagte Kovacs, was man ihm gar nicht ansehe. Wenn also Demski nicht an diesem Päderastenaufdeckertreffen in Berlin teilgenommen, sondern seine Arbeit gemacht hätte wie sonst auch, hätte Mauritz seine Neurose nicht offenlegen und er selbst nicht auf dieses Gerüst klettern müssen. Jawohl, ein Gerüst, sagte er auf Leftis fragenden Blick, mit Steckmuffen verbundene Stahlrohre, Einhängelemente aus Holz und Aluminiumblech, das Ganze sechs Stockwerke hoch, an einem dieser gesichtslosen Bauten nördlich des Flusses. »Neptun-Versicherung?«, fragte Lefti.
»Woher weißt du das?«
»Wir machen dort ab und zu das Catering.«
»Gibt es irgendetwas in dieser Stadt, bei dem du deine Hände nicht im Spiel hast?!«, fragte Kovacs. Lefti neigte den Kopf. »Die Augen sind dir gegeben, um zu sehen, und die Ohren, um zu hören.«
»Und der Mund, um die Sinnsprüche des Propheten unter die Leute zu bringen.«
»Willst du nicht konvertieren, Kommissar?«
»Wäre auch schon wurscht«, sagte Kovacs. Er sei also übers Absperrband gestiegen und an den senkrechten Stahlleitern hochgeklettert, habe sich über das lästige Baumeln der Kamera geärgert und mehr noch darüber, dass seine Tochter kommen werde, um ihm Geld abzuknöpfen. Im vierten Stockwerk sei er dann so richtig schön aufgeladen gewesen und froh darüber, dass ihn niemand begleitet habe. Da die Absturzstelle ordnungsgemäß gekennzeichnet gewesen sei, habe er sie auch gleich gefunden – ein Wirrwarr an Fußabdrücken innerhalb der grünen Signalspraymarkierungen. Er habe auf den ersten Blick erkannt, dass da spurentechnisch nichts zu holen sei, sich aber trotzdem auf die Knie begeben, um ein paar Aufnahmen zu machen. In diesem Augenblick sei ihm die Kamera von der Schulter geglitten. Er habe in einer unwillkürlichen Bewegung mit der linken Hand nach ihr und mit der rechten nach dem nächsten Halt, also nach dem Querholm am Gerüst, gegriffen und den Metallsplint, der da durch
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